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16.06.2017, 09:42
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 23.06.2017, 12:36 von Steve Barnes.)
Sie sind die größten Helden Aventuriens: die Sieben Gezeichneten. Entgegen aller Widrigkeiten und Wahrscheinlichkeiten haben sie triumphiert. Borbarad ist besiegt.
In dieser Geschichte geht es aber nicht um die Gezeichneten und um keine Heldengruppe. Die Akademie der Hohen Magie zu Punin schickt einen gescheiterten Akademiker, um mysteriöse Ereignisse in Dragenfeld zu untersuchen - und würde es sich um eine andere Geschichte handeln, dann würde er über sich selbst hinaus wachsen und zum Helden werden. Aber das wird ihm nicht gelingen. Denn jeder weiß, dass Borbarad nicht von einem Bücherwurm besiegt wurde, sondern von den Sieben Gezeichneten.
Der zweiteilige Roman erzählt die Geschichte um die Sieben Gezeichneten aus einem anderen Blickwinkel. Er ist für all jene gedacht, die die Serie nicht selbst spielen, aber sich kurzweilig in diesen zentralen Punkt der aventurischen Geschichte einlesen möchten. Als Meister der Kampagne kann er zur Einstimmung dienen. Bei ehemaligen Spielern lässt er hoffentlich schöne Erinnerungen aufleben.
Ich werde hier im Forum jede Woche ein kleines Kapitel des ersten Teils veröffentlichen und freue mich über jede Kritik (meine ich ernst). Vielleicht antworte ich nicht auf jeden Beitrag, werde aber sicher alles lesen. Wer mich unterstützen möchte, kann den kompletten ersten Teil auch als E-Book erwerben.
Edit: Als "Pay What You Want"
Der zweite Teil erscheint etwas später als Schmiede des Verderbens, aber sicher deutlich vor dem dritten Teil der Answinreihe.
Warnung: Dieser Roman enthält Meisterinformationen zur Kampagne rund um die Sieben Gezeichneten.
Es handelt sich nicht um eine Nacherzählung der Abenteuer, aber als Spieler könntest du Informationen erfahren, dir den Spaß an der Kampagne verderben.
Bitte in diesem Beitrag nur Kommentare zu bereits geposteten Kapiteln!
Falls das Thema zu kommerziell erscheint, bitte löschen. Kein Problem. Mir geht es nicht darum, Einnahmen zu generieren (das lohnt sich sowieso niemals), sondern ums Feedback. Ich lese hier seit einiger Zeit und die Diskussionen laufen sehr vernünftig ab, selbst wenn es um so kontroverse Themen wie Schick HD ging.
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Khoramsbestie
Rahja 1016 BF
Eine dichte Wolkenbank verdeckte die untergehende Sonne und verwandelte die Abenddämmerung in ein göttliches Blutbad des Himmels. Dumpf drangen die Trommelschläge durch die Berge, wurde zurückgeworfen und ließen seinen Körper erbeben. Die verzweifelten Schreie der Sklaven mischten sich mit der Ekstase des Stammes.
Burshuk zog tief die kalte Bergluft in seine Lungen. Zwar lagerte sein Stamm nicht hoch im Raschtulswall, aber eben diese Kälte beschützte seinen Stamm seit ewiger Zeit vor den kaltblütigen Echsen, schon lange bevor die blutleeren Menschen hervorgekrochen kamen und die Täler besiedelten. Der Rhythmus der Trommeln brachte seinen Körper zum Zucken. Heute war seine Nacht. Sein erstes Blut. Burshuk hatte seine erste große Beute erlegt, die Khoramsbestie. Ihr Fell kleidete seine Schultern und er trank ihr Blut zusammen mit vergorener Stutenmilch. In dieser Nacht würde er zum Mann werden, seine erste wirkliche Waffe tragen. Natürlich hatte er, wie alle Kinder der Ferkinas, mit der Schleuder auf Maulwürfe geschossen und wilde Tiere gereizt, aber vor ihm lag die Waffe eines Mannes. Ein Beil mit einer Klinge aus Obsidian. In dem erstarrten Vulkangestein spiegelte sich der blutige Sonnenuntergang, der sich bald mit dem Blut seiner Feinde mischen würde. Schmerzhaft fasste er sich an die Seite. Hätte er dieses Beil an Stelle des spitzen Stockes gehabt, hätte ihm die Wildkatze wohl kaum die halbe Hüfte aufreißen können. Er spülte die Erinnerung mit einem weiteren Schluck der blutigen Milch hinunter.
Über die Weite, die ein Pony einen halben Tag läuft, musste sich Burshuk durch das Gebirge schleppen bis seinen Stamm erreichte. Auf allen Vieren kroch er, wie eine verabscheuungswürdige Eidechse. Sich lachten über ihn: „Sieh da Burshuk, die Eidechse“. Keiner lachte mehr über ihn, als sie den Kadaver der Bestie sahen. Fast so schwer wie er selbst. Er hatte das tote Tier drei Tage hinter sich her gezogen. Wie hatte da die schöne Farah geschaut und die dunklen Augen aufgerissen. Jetzt würde er nicht mehr um sie werben müssen, er konnte sie sich einfach nehmen. Falls er sie überhaupt noch wollte. Er würde sich zahlreiche Frauen nehmen, ja vielleicht sogar einen eigenen Stamm gründen. Keiner würde je mehr sagen: „Seht da, Burshuk, der wie eine Eidechse kriecht“. Er würde in die Täler hinabsteigen und den Eidechsen und Blutlosen das Fürchten lehren.
War er eingenickt? Etwas ließ Burshuk aus seiner ekstatischen Trance erwachen. Noch immer tanzten seine Stammesbrüder in wilden Zuckungen um ihn herum. Das Geschrei übertönte nun fast die Trommeln. Aber es hatte sich verändert. Hatten die Schmerzensschreie der Sklaven zugenommen? Nein. Das waren die Schreie seines Stammes. Sein trüber Blick begann sich zu klären. Plötzlich konnte er Farah vor sich sehen. Sie trat gegen seinen Holzbecher und blutige Milch ergoss sich auf den steinigen Boden. Er war so überrascht, dass er überlegte was zu tun sein, statt diese unverschämte Frau einfach zu töten. Da bemerkte er, dass das Blut vor ihm unmöglich alles aus seinem Becher stammen konnte. Unter Farah hatte sich ein See der roten Flüssigkeit gebildet; ihr wunderschönes Gesicht zertrümmert, ihr Körper blutüberströmt brach sie zusammen. Burshuk versuchte verzweifelt aufzustehen und einen Feind auszumachen. Seine Welt drehte sich um ihn. Noch immer schienen die Gestalten um ihn herum zu tanzen. Diesmal eng umschlungen mit unbekannten tödlichen Fremden. Sein erster Impuls war es zu Flüchten, in die Berge mit den Frauen und Kindern. Aber sofort schämte er sich für diesen Gedanken. Er war nun ein Mann. Vor ihm tauchte eine hoch gewachsene Gestalt auf. Burshuks Blick fiel als erstes auf die lange gebogene Klinge des Mannes. Selbst dieser große Krieger musste die Waffe mit beiden Händen schwingen. Eine Klinge von fast zwei Schritt Länge trägt höchstens der Häuptling eines Stammes, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Sieg gegen diesen Mann würde ihn, Burshuk, zum Häuptling machen. Der Mann hatte halt gemacht und betrachtete den jungen Ferkinia mit einem prüfenden Blick aus harten blaugrauen Augen. Das Gesicht war von kraterartigen Narben durchzogen, die ein kurzer grauer Bart nur schwer verdecken konnte. Das kurze verfilzte hellbraune Haar zeigte ebenfalls schon erste Spuren von Grau. Burshuk schätze seine Chancen ab. Mit einem schnellen Sprung wäre er bei seinem Beil und könnte dem bleichen Schwertschwinger den Bauch aufschlitzen. In diesem Moment begann sich der Fremde von ihm abzuwenden. Er betrachtete ihn anscheinend nicht als Gegner, nicht als Mann. Zorn durchflutete seinen Körper und trotz der kühlen Nacht begann jeder Muskel zu brennen. Innerhalb eines Augenschlags hatte er sein Beil erreicht und Schlug zu. Ein Schmerz durchfuhr seine Finger, dann war es vorbei. Ungläubig starrte er auf seinen Arm. Das Schwert der Bestie hatte seine Hand am Gelenk abgetrennt. Der fremde Krieger griff ihn nicht weiter an. In seinen Augen war jedoch kein Mitleid zu erkennen. Noch immer spürte Burshuk keinen Schmerz in seinem Armstumpf. Mit der linken Hand griff er langsam nach seinem Beil. Ungeschickt entfernte er seine eigene, rechte Hand, die die Waffe noch immer umklammert hielt. Der Fremde schüttelte langsam den Kopf. Burshuks Schreie hallten durch den Raschtulswall.
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(16.06.2017, 09:42)Steve Barnes schrieb: Falls das Thema zu kommerziell erscheint, bitte löschen. Kein Problem. Mir geht es nicht darum, Einnahmen zu generieren (das lohnt sich sowieso niemals), sondern ums Feedback.
Hallo und willkommen Steve. Da du auf der Produktseite auf einen Forenthread im Ulisses-Forum verlinkst und das Buch selbst auch von dir ist, ist es selbstverständlich auch von meiner Seite gestattet. Feedback darf hier gerne gegeben und darüber diskutiert werden.
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Mittelreicher
Rahja 1016 BF
Der Mittelreicher wischte seine Boronsichel an den Fetzen eines Toten ab. Der Kampf war lange gewesen, dennoch lag noch immer der Schatten der Nacht über dem grausigen Schauspiel. Sie befanden sich nicht hoch genug im Raschtulswall, um in einer bewölkten Nacht wie dieser die Sterne zu sehen und das Feuer der Ferkinas war bereits heruntergebrannt. Von überall war das Wimmern der Verletzten zu hören. Mit einem Stöhnen zog er das leichte Kettenhemd über den Kopf. Die Anstrengung mit dem langen gebogenen Schwert zu kämpfen hatte den Mittelreicher an die Grenzen seiner Belastbarkeit gebracht. Seine Unterkleidung war durchschwitzt und klebte am Körper, wenn er sich nicht schnell abtrocknete, würde er bei dieser Kälte erfrieren. Sorgfältig suchte er seinem Körper nach Verletzungen ab. Er hatte schon Soldaten gesehen die im Fieber der Schlacht weitergekämpft hatten, obwohl ihr Schwertarm bereits abgetrennt war und dies erst bemerkt hatten als die nächste Parade ins Leere ging. Auch kleine Wunden verursachten oft genauso viel Tode nach der Schlacht durch Wundbrand wie große Verletzungen während dem Kampf. Bis auf einige blaue Flecken hatte ihn sein Kettenhemd jedoch geschützt.
Die Versuchung sich hinzulegen und zu schlafen war übermächtig, aber es gab noch viel zu tun. Mit einem Ruck strafte der Söldner seine Schultern und verschaffte sich einen Überblick.
Von der ganzen Kompanie waren keine zwei Dutzend übrig geblieben, die Hälfte davon würde den Morgen nicht erleben und erst recht nicht den Abstieg in das Flachland. Der Feldscher war ebenfalls tot. Er hatte dem Salbenmischer aus Ben-Oni, der alles mit einem Sud aus Kamelscheiße hatte behandeln glauben zu können, ohnehin nicht getraut. Ein Schrei ließ ihn aus seinen Gedanken auffahren. Einer seiner tulamidischen Kameraden torkelte auf ihn zu. Die Hände am blutverschmierten Hals. Seine Schreie begannen bereits in ein verzweifeltes Gurgeln überzugehen. Blut füllte seine Lunge. Schnell war dem Mittelreicher klar was passiert war. Sein gieriger Kamerad hatte die Leichen der Ferkinas begonnen zu plündern, ohne sich zu vergewissern, dass alle bereits zu Boron gegangen waren oder wo auch immer diese verdammten Teufel nach ihrem Tod hinkamen. Für ihn war nichts mehr zu tun und es gab auch kein Mitleid für den Sterbenden. Er hatte den Kodex verletzt. Gesetz 27: „Nimmt ein Söldling dieses Recht in Anspruch, trotzt einer Versorgung durch den Soldherrn oder vor der Versorgung Verwundeter ist er zu verurteilen nach Gesetz 99.“ Der Mittelreicher sah von dem Vollzug der Strafe ab. Es wäre ohnehin der Tod gewesen, den der Mann in kürzester Zeit ereilen würde.
Bei seinem Rundgang fand er nur einen überlebenden Ferkina, der der den anderen Söldling getötet hatte. Sie kämpften wirklich wie Verrückte und bis zum Tod. Damit waren sie den Orks nicht unähnlich. In der Tat waren den tulamidischen Söldnern in seiner Kompanie diese Wilden auch nicht viel mehr Wert, vorausgesetzt sie hatten in ihrem Leben schon einmal einen leibhaftigen Ork gesehen. Den Mittelreicher überkam bei diesem Gedanken immer ein ungutes Gefühl, denn er hätte einen Ferkina wohl kaum von einem anderen Tulamiden unterscheiden können und er selbst ähnelte dem tulamidischem Volk weit weniger. Zwar überragte er die meisten in seiner Kompanie um fast einen Spann, aber er war selbst nicht einmal einen Schritt und drei Spann groß und damit in seiner Heimat wohl eher von durchschnittlicher Größe.
Er zögerte kurz als er den flehenden Gesichtsauszug des Ferkinas bemerkte und rief sich den Wortlaut des Kodex in das Gedächtnis. Gesetz 5: „Einem Söldling sei es hiermit erlaubt einen Feind des Soldherrn zu töten, sofern es dieser befohlen hat oder es zu seinem Schutz notwendig zu erachten ist. Der Söldling hat nur Feinde zu töten, welche gegen ihn Waffen zeigen. Ergibt sich ein Feind des Soldherrn, ist dies zu akzeptieren.“ Dann fiel der Blick des Mittelreichers auf den blutigen Dolch, den der Ferkina in den zitternden Händen hielt. Damit hatte er einen seinen Kameraden erstochen und sein Leben verspielt. Ein flacher Rückhandschlag beendete das Leben des Stammeskriegers.
Mit einigen seiner Kameraden kümmerte er sich nun um die Verwundeten, die meisten der Überlebenden vergnügten sich mit den Frauen der Ferkina. Vor einiger Zeit hatte er einmal bei so etwas einschreiten wollen, wurde dann aber kurzerhand zurechtgewiesen. Das Recht zu Plündern stand dem Söldling nach dem Kunchomer Kodex zu und er glaubte an den Kodex. Die Tulamiden legten, zumindest in der Gegend um Fasar, die Frau als Teil des Besitzes aus. In Aranien wäre man zwar dafür hingerichtet worden, hier jedoch waren sie nicht in Aranien. Die meisten anderen, die mit ihm die Verwundeten versorgten waren noch sehr jung und wohl zu schüchtern um im Kreis ihrer Kameraden eine Frau zu vergewaltigen, jedoch keineswegs zu anständig. Die ganze Truppe hatte nur aus Halsabschneidern bestanden und würde sich wohl nach Auszahlung des Solds in Fasar auflösen. Er war außer dem Hauptmann einer der wenigen, die eine Klinge führten, die für den Kampf geschmiedet wurde. Die meisten hatten nicht mehr vorzuweisen als eine umgeschmiedete Sense oder eine Heugabel. Kein Wunder hatten sie so schwere Verluste hingenommen, obwohl sie die Wilden bei einer Art Fest überrascht hatten und obwohl sie in der Überzahl gewesen waren. Ohne das Fest hätten sie diese geländekundigen Krieger wohl auch kaum überraschen können. Der Mittelreicher bezweifelte sogar, ob seine Kompanie den Weg zurück finden würde.
Als die Verwundeten versorgt waren, legte er sich noch einige wenige Stunden in seinem Schlafsack zur Ruhe. Am Morgen wurde er von Schreien geweckt. Seit Jahren schlief er in dem leichten Kettenhemd und mit einem Griff zu seiner mächtigen Zweihandwaffe war er kampfbereit. Es war jedoch kein Angriff zu erkennen. Die verbliebenen Söldlinge hatte eine Traube gebildet, kaum einer Stand aufrecht, wahrscheinlich hatten sie die ganze Nacht durch getrunken und den Sieg gefeiert. Wahrscheinlich hatte der Hauptmann nicht einmal Wachen aufgestellt und das auf feindlichem Gebiet. Unter anderen Umständen wäre der Mittelreicher niemals mit einem solchen Haufen losgezogen, aber für einen Mittelreicher waren in Fasar sonst nur schwer Aufträge zu bekommen, er konnte nicht wählerisch sein.
Als er in den Kreis der Söldlinge trat war gerade ein heftiger Streit im Gange. „Ich sage wir nehmen sie mit und verkaufen sie. Und während der Reise haben wir unseren Spaß!“, schlug ein rattengesichtiger Tulamide dem Hauptmann Urschid Al’ irgendwas vor. Der Mittelreicher merkte sich nicht die Namen dieser angeheuerten Straßenräuber, die genauso schlimm waren wie die Wilden, die sie jagten. Sie nannten ihn nur den „Mittelreicher“ und daher sprach er die anderen Söldlinge eben nur mit „Tulamide“ an. Urschid schüttelte den Kopf: „Nein! Der Erhabene will auch die Frauen und Kinder tot sehen, damit sich das Gezücht nicht weiter vermehrt. Für jeden Kopf...“ Der Hauptmann biss sich auf die Zunge, aber es war schon zu spät. Das Rattengesicht begann zu schreien: „Es gibt Kopfprämien? Du hast uns nichts von Kopfprämien gesagt!“ Der feiste Hauptmann begann zu schwitzen und wischte sich über die Stirn: „Ein Hauptmann darf nach dem Kodex von Kunchom höher bezahlt werden als der gemeine Söldling, fragt den Mittelreicher, er kann lesen, er kennt den Kodex. Alle Blicke richteten sich auf Mittelreicher. Es war ein alter Phexgeweihte gewesen, der ihm damals im Dorf das Lesen beigebracht hatte. Er hatte immer gesagt, man müsse zumindest versuchen gleiche Voraussetzungen zwischen den Bauern und fahrenden Händlern zu schaffen, sonst sei der Handel nicht seinem Gott wohlgefällig. Er konnte nicht besonders gut lesen und musste dazu den Mund bewegen, aber er hatte ein gutes Gedächtnis und hatte tatsächlich eine alte Ausgabe des Kunchomer Kodex erworben. Den Einband hatte zwar jemand abgeschnitten, aber der Text war gut erhalten. Mittelreicher hatte immer das Gefühl es müsse Regeln geben. Trotzdem war er nie ein enger Freund der Praioskirche gewesen und ihrer Pfaffen. Deren Regeln waren vielleicht sogar richtig, aber nur für die Adligen und Reichen, die es sich leisten konnten. Nicht für die, die überleben mussten. Der Kunchomer Kodex war einfach... vernünftig. Jetzt verfluchte er aber den alten Geweihten und den Händler in Kunchom. Er würde es sich mit einer der Parteien verscherzen. Also antwortete er vorsichtig: „Das stimmt, der Sold des Hauptmanns darf abweichen, aber wenn man bei Kopfgeldern nachschlägt ist zu lesen, dass das Kopfgeld vom Hauptmann ausgezahlt wird...“ Weiter kam er nicht, bereits drei der Söldlinge hatten sich auf ihren Hauptmann geworfen. Urschid war trotz seiner Leibesfülle einer der wenigen kampferprobten Söldner in der Kompanie und wehrte sich standhaft. Sogleich stürzten zwei weitere Söldner dazu, die glaubten sich einen extra Sold verdienen zu können, indem sie den Hauptmann retteten. Langsam zog sich Mittelreicher mit seinem langen Zweihänder zurück und ging dabei die Passagen des Kunchomer Kodex durch. Er musste den Hauptmann nicht verteidigen, er hatte den Kodex nicht verletzt. Angreifen musste er ihn auch nicht, außer er wollte einen extra Sold. Also verhielt er sich ruhig, wenn jemand aus dem Getümmel auf ihn zukam hob er nur leicht seine Klinge und der derjenige suchte sich einen anderen Gegner. In der Schlacht war die Kampfreihe für einen guten Kämpfer ein sicherer Ort, der Rücken durch Kameraden gedeckt. Sich auf diese Art in einen Kampf zu begeben war selbst für einen überragenden Kämpfer praktisch Selbstmord. Selbst die Verwundeten des Kampfes von letzter Nacht blieben nicht verschont. Die Frauen der Ferkinas waren zu eingeschüchtert um davonzulaufen oder verstanden vielleicht auch einfach nicht was vor sich ging. Nach wenigen Minuten lagen über zwanzig weitere Leichen auf dem kleinen Plateau. Drei Kämpfer hatten überlebt, keiner unverletzt. Einer ergriff das Wort. „Was nun? Hören wir auf und teilen wir das Kopfgeld?“ Mittelreicher schüttelte langsam den Kopf: „Das kann ich nicht zulassen. Sie tragen keine Waffen und wehren sich nicht. Ihr verletzt den Kodex, wenn ihr sie tötet.“ Der überlebende Söldner schaute ungläubig: „Das darf nicht wahr sein, wer interessiert sich für den Kodex?“
Mittelreicher hob langsam die Boronsichel und ging auf den Mann zu. Die anderen beiden zögerten. Sie waren beide nur mit Sicheln und Messer bewaffnet und waren sie überhaupt verbündet? Mittelreicher setzte jetzt zu einem Sprint an und hob seine Waffe zu einem seitlichen Hieb. Der Sprecher der Gruppe schaffte es gerade noch sein Schwert hochzureißen, aber Mittelreicher schwang seinen Zweihänder mit unglaublicher Kraft herum und traf ihn in der anderen Seite. Mit einer einzigen Drehung gelangte er bereits in Waffennähe der anderen beiden Söldlinge. Mittelreicher war nicht mehr jung. Sein Herz pochte schon jetzt heftig und er spürte seine 46 Götterläufe, aber er wehrte den ängstlich geführten Sensenhieb mit Leichtigkeit ab. Das Holz der Waffe splitterte und ein weiterer Hieb der Boronsichel reichte aus, um dem Tulamidem den halben Arm abzutrennen und ihm mit dem Schwert noch in die Seite zu fahren. Der verbliebene Söldner warf seine Waffe zur Seite, aber in Mittelreicher kochte das Blut. Dieser war in der Nacht bei den Vergewaltigern gewesen. Mit einem einzigen Hieb spaltete er den Mann bis zur Brust.
Erschöpft sank Mittelreicher auf die Knie. Die Frauen, Kinder und Alten hatten sich mittlerweile aus den provisorischen Fesseln befreit und flüchteten. Er tat nichts um sie aufzuhalten. Er hatte den Kodex verletzt, aber es war niemand mehr da um ihn zu richten.
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Mittelreicher
Rahja 1016 BF
Seit der aus dem Raschtulswall herabgestiegen war, erstreckte sich das dürre Grasland bis an den Horizont. Seit einigen Tagen begann die Landschaft jedoch immer hügeliger zu werden und das Gras auch etwas grüner. Trotzdem zeigte sich nur selten ein Baum.
Mittelreicher hatte es nicht übermäßig eilig, nach Fasar zurückzukommen. Fast war er enttäuscht, als er die höchsten Türme der Erhabenen vom nächsten Hügel ausmachen konnte. Er brauchte aber noch eine ganze Tagesreise, um sein Ziel zu erreichen. Fasar die Mutter aller Städte. Er musste sich beeilen, bald würde die Nacht hereinbrechen und in Fasar gab es als einzelner kaum eine sichere Straße. Natürlich musste er sich nicht fürchten, vor geschlossenen Toren zu stehen. Fasar besaß keine Stadtmauer. In dieser chaotischen Stadt wäre das auch nicht sinnvoll gewesen. In kürzester Zeit hätten die Bewohner für ihre dürftigen Lehmhütten die Steine weggeschleppt oder einer der herrschenden Erhabenen hätte beschlossen, sein Einzugsgebiet zu erweitern und einfach die Mauer eingerissen. Man konnte diese Stadt mit einem riesigen Ameisenhaufen vergleichen, in dem alles verwertet wird und der einfach immer weiterwächst, ohne dass eine einzelne Ameise wüsste wie. Mittelreicher sah sie jedoch eher wie ein boshaftes Geschwür, das alles Verwertbare aus Menschen und Umgebung zog. Selbst vor dem Raschtulswall, seinen Gesteinen und Erzen, machte dieser Moloch nicht halt. Als Mittelreicher die ersten heruntergekommenen Lehmhütten passierte, war es bereits dunkel in den Gassen. Das gigantische Gebirge an dessen Fuß die Stadt erbaut wurde, verdeckte das Praiosgestirn zu dieser Jahreszeit sehr früh. Sein Ziel war der Turm des Auftraggebers Nareb al’Rhasid. Bei seinem Turm handelte es sich nicht um einen richtigen Burj, wie sie die Erhabenen bewohnten. Gebäude mit über zwanzig Stockwerken, gebaut aus Lehmziegeln und zusammengehalten von der Macht mächtiger Dschini. Aber die Erhabenen waren die Herrscher über Fasar und es galt als Schick, diesen Nachzueifern. Narebs Turm bestand nur aus vier Stockwerken und war gegenüber diesen Meisterwerken der magischen Baukunst nur ärmlich anzuschauen, aber natürlich kein Vergleich zu den Lehmbehausungen der übrigen Bevölkerung, die dicht gedrängt im Schatten der großen Türme lebte und ständig durch deren Anblick ermahnt wurde, der Macht der Erhabenen und deren Eintreibern zu gehorchen. In den Armenvierteln von Fasar gab es einen Ausdruck. „Adal zi tuni“. Frei übersetzt mit „das Licht sehen“. Wer nicht mehr im Schatten eines anderen lebt, hat es geschafft, ist reich und glücklich. Viele Märchen beginnen mit dem Betteljungen, der es ganz bis nach oben in die Türme schafft. Tatsächlich war das in Fasar im Gegensatz zu den mittelreichischen Städten und ihren Adelsstrukturen theoretisch möglich, praktisch vorgekommen soll es in der Geschichte nur ein-, zweimal sein und selbst das bezweifelte Mittelreicher. Das einzige, was in dieser Stadt Freiheit bedeutete, war Geld.
Mittelreicher war schon wieder in Gedanken versunken, er kannte den Weg nach Mantrabad auswendig, aber jeden Tag konnten neue Gefahren auf ihn lauern, selbst für einen Mann mit einem derart großem Schwert, dass er in den engen Gassen ohnehin kaum hätte einsetzten können. Es war hier höchstens zur Abschreckung gut. Als er endlich den Turm seines Soldherren erreichte, haftete sicher mehr als ein Augenpaar auf ihm. Zum Glück kannte nicht nur sein toter Hauptmann das verabredete Klopfzeichen. Im Gegensatz zu den Türmen der Erhabenen war der Turm des Handelsherren Nareb nicht an das Brückensystem angebunden, dass die Gebäude der Reichen untereinander verband und hatte daher auf der Höhe des Erdbodens einen Eingang. Es galt als vornehm von sich zu behaupten, dass die eigenen Füße noch nie den Erdboden berührt hatten. Die Behausungen der Erhaben besaßen oft nicht einmal einen Dienstbotenausgang und hatten stattdessen geheime Tunnel, die vor die Stadt führten.
Endlich wurde Mittelreicher eingelassen. Der gebeugte alte Diener fragte: „Was willst du?“ „Die Söldnerkompanie Khoramsbestien im Dienste des Herrn Nareb meldete sich zurück.“ Wo ist dein Hauptmann? „Ich bin der Hauptmann“ Mit dieser Antwort log Mittelreicher nicht einmal. Als einziger Überlebender hatte er automatisch den höchsten Rang inne. „Na komm rein, mein Herr erwartet euch schon seit zwei Tagen zurück. Zusammen mit zwei Leibwächtern wurde Mittelreicher die Treppe hinauf in das Stockwerk von Nareb al’Rhasid geführt. Der Mittelreicher konnte nur einige Brocken Tulamida, aber soweit er wusste bedeutete der Name seines Auftraggebers „der Weiße“ oder auch „der Gerechte“. Nareb war allerdings keines von beidem, was Mittelreicher wieder vor Augen führte, dass Namen nur bedeuteten, dass man von anderen so genannt wurde beziehungsweise sich so nennen ließ. Nareb hatte durch seinen skrupellosen Abbau von Alabaster einen gewissen Reichtum erlangt, dabei richtete er zwar seine Arbeiter und Sklaven zu Grunde, aber das war nicht das Problem von Mittelreicher. Sein Problem war, dass die Steinbrüche von Nareb von den wilden Ferkinas überfallen wurden und die angeheuerte Kompanie den Auftrag hatte, dem ein Ende zu setzen. Und dieses Problem war gelöst. Zusammen mit den Leibwächtern betrat er das Arbeitszimmer. Wenn das nur irgendmöglich war, hatte Nareb nochmal mächtig zugelegt, seit er ihn beim Abmarsch der Kompanie das letzte Mal flüchtig gesehen hatte. Der riesige Leib des Mannes thronte auf einem Diwan, gehüllt in die edelsten Seidenkleider. In dem aufgedunsenen Gesicht konnte Mittelreicher keine Regung ausmachen. Es war, als wäre mit Wachs jede kleine Kontur zu einem unförmigen Ball geformt worden. Nur die beiden kleinen Schweinsäuglein drückten eine Art Verwirrung aus. „Wo ist der Rest deiner Truppe“, fragte er in schwerfälligem Garethi. „Tod, genauso wie die räuberischen Ferkinia“, lautete die einsilbige Antwort. Narebs Stirn hätte eine tiefe Falte gezeigt, wenn seine Gesichtsmuskeln noch in der Lage gewesen wären die Fettwülste entsprechend weit nach oben zu bewegen. „Beanspruchst du die Kopfprämie?“ „Nein.“ Die wulstigen Lippen Narebs verzogen sich zu einem Lächeln. Er hatte gerade nicht nur das versprochene Kopfgeld, sondern auch den Sold der kompletten Kompanie gespart. „Ich habe einen neuen Auftrag für dich. Bezahlung nach dem Kunchomer Kodex. Interessiert?“ „Bezahlung als Hauptmann?“, fragte Mittelreicher nach. „Ja, von mir aus auch als Hauptmann. Ich habe einen Konkurrenten, dem ein Besuch abgestattet werden soll. „Ein Besuch?“ fragte Mittelreicher und ignorierte damit bewusst die Ironie in der Stimme Narebs. „Nachdem jetzt das lästige Problem mit den Eingeborenen gelöst ist, möchte ich mein Unternehmen vergrößern. Allerdings hat sich dieser Konkurrent“ - Narebs Stimme drückte tiefgehendste Verachtung aus - „davon wenig begeistert gezeigt. Er ließ sich sogar dazu hinreißen, mir zu drohen. Kannst du dir das vorstellen?“ Mittelreicher antwortete lediglich mit einem Kopfschütteln, obwohl er das sehr wohl konnte. „Also habe ich beschlossen, eine entsprechende Maßregelung vorzunehmen. Ich möchte, dass du in den Turm meines Konkurrenten eindringt und dafür sorgst, dass er mit niemandem mehr Geschäfte macht.“ „Ich allein?“ „Nein natürlich nicht. Nachdem die Khoramsbestien nicht ganz auf Soldstärke sind, werde ich dir zwei meiner persönlichen Leibwachen mitgeben und einen… Magier.“ Nareb zeigte mit einer angedeuteten Kopfbewegung zur Seite. Hinter einem Vorhang trat ein Mann mit reich besticktem Kaftan hervor. Dem Mittelreicher fiel es noch immer schwer das Alter der Tulamiden zu schätzen, hätte er sich jedoch festlegen müssen, hätte er den Mann auf Ende zwanzig oder Anfang dreißig geschätzt. Der Bart war pedantisch akkurat Gestutzt und die grünen Augen verrieten einen wachen Geist. „Salam, mein Freund! Möge Feqz bei unserem Auftrag schützend seine Hand über dich halten. Mein Name ist Tulachim ibn Tulef.“ Mittelreicher hob zu einer Antwort an: „Ich dachte ihr Magier bevorzugt Hesinde, nicht Phex als Schutzgott“. „Das mag für meine Kollegen aus Gareth sehr wohl zutreffen und ich mag nicht leugnen, dass unsere Kunst uns in große Nähe zur weisen Hesinde bringt, jedoch glauben wir hier, dass es niemand anderes war als Feqz, der den Menschen das Geschenk der Magie brachte. Außerdem ist der heilige Fuchs des Feqz hier weitaus beliebter als die Schlange der Hesinde. Hätten meine Vorfahren nicht die Plage der Echsenherrscher vertrieben, wären eure Werte seefahrenden Väter schon an den Küsten wieder ins Meer getrieben worden.“ Der Mittelreicher war schon seit langem mit den Redefluss der Tulamiden vertraut und versuchte gar nicht erst zu entgegnen, dass sein Vater Rübenbauer gewesen war und in seinem ganzen Leben niemals das Meer gesehen hatte und antwortete daher mit einem knapper Kopfnicken. „Wann soll es losgehen?“ Nareb, dem es sichtlich unwohl war, nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen, entgegnete: „Morgen, bei Sonnenuntergang werdet ihr euch bei meiner Familiengruft in Al’Uruch treffen.“ Bei Arbeiten haben meine Sklaven einen Zugang zu unterirdischen Gang in das alte Kanalisationssystem entdeckt. Von dort gibt es einen Weg in die Keller meines Konkurrenten. Die Karte hat mich eine beträchtliche Summe gekostet. Die Operation muss gelingen! Mit diesen Worten überreichte er ein Stück Pergament an Tulachim. Mittelreicher nickte und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.
Draußen atmete Mittelreicher tief ein. Zwar war die Luft in den engen Gassen alles anderes als frisch, jedoch war alles besser als der süßlich widerliche Duft der Rauschkräuter in Narebs Turm. Der Tag war bereits weit fortgeschritten. Die Sonne war schon fast hinter dem Raschtulswall verschwunden. Das Fehlen einer Laterne wurde von de Fasarern Nachtwächtern schon fast mit verbrecherischen Absichten gleichgesetzt. Mittelreicher durchstreifte die Gassen zielsicher auf der Suche nach seiner Herberge. Die Tulamiden waren es gewohnt, nach Sonnenuntergang die kalten Abendstunden für kleinere Arbeiten zu nutzen, zu essen oder Freunde zu treffen, um Neuigkeiten auszutauschen. Hier jedoch nahm das geschäftige Treiben der Stadt immer mehr ab, bis das einzig hörbare Geräusch von Mittelreichers Stiefeln stammte. In einer besonders kleinen und dunklen Gasse versperrte ihm eine zerlumpte Gestalt den Weg. Mittelreicher musste sich nicht umschauen, um zu wissen, dass hinter ihm mindestens eine weitere Person aufgetaucht war. Wieder schüttelte er nur langsam den Kopf und hoffte, dass seine jetzigen Gegner vernünftiger waren als die wilden Ferkinas. Mit einer bedächtigen Bewegung löste er sein großes Zweihandschwert von seinen Rücken. Es handelte sich um eine Boronssichel. Die lange Klinge wurde von Fußvolk bevorzugt gegen gegnerische Reiterei eingesetzt. Im Gemenge war die Waffe zwar eher ungeeignet, aber über zwei Schritt maraskanischer Stahl schreckten die meisten Gegner ab. Die Gestalten verschwanden wieder in den Schatten. Zumindest diesmal würde er Kor nicht opfern.
Als Mittelreicher schließlich das runtergekommene Gebäude in einer schattigen Gasse im Viertel Unterfels erreicht hatte, trat er erleichtert ein. Die Luft im Gastraum war nicht nur verbraucht, sondern durch so viele Lungen gegangen, dass man die Anwesenheit der früheren Atmer bereits spüren konnte. Der breitgebaute Glatzkopf hinter dem Tresen nickte Mittelreicher nur zu. Er zahlte seine Miete, machte keinen Ärger und hatte ein viel zu großes Schwert. Die Zimmer waren erstaunlich sauber und es gab nicht viele andere Gäste. Nachdem er das Zimmer verrammelt hatte, fiel Mittelreicher in einen traumlosen Schlaf.
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Mittelreicher
Rahja 1016 BF
Drückende Hitze weckte Mittelreicher aus dem Schlaf. Es musste später Vormittag sein und die Sonne stand schon seit einigen Stunden am Himmel. An Weiterschlafen war nicht mehr zu denken. Also stand Mittelreicher auf und beseitigte die grauen Bartstoppel mit einem scharfen Messer. Frühstücken wollte Mittelreicher in seiner Herberge nicht.
An einem kleinen Marktstand kaufte er sich einen Fladen und etwas Hammelfleisch. Das bunte Marktreiben war ansonsten zu dieser Tageszeit wie ausgestorben. Daher wandte sich Mittelreicher in Richtung des Viertels Mantrabad zum Tempel des Guten Kampfes. Der Kunchomer Kodex wurde auch dort hoch gehalten. Im Gegensatz zum Tempel des Guten Goldes verehrte dieser Tempel weniger den finanziellen Aspekt des Söldnertums, sondern mehr das zügellose Wesen des Söldnergottes Kor: Die Fähigkeit völlig in der Schlacht und im Schlachten aufzugehen.
Schon von weitem drang aus dem roten Backsteingebäude der Lärm von Waffen. Auf dem staubigen Innenhof wurde mit hölzernen und auch scharfen Waffen geübt. Wo andere Tempel Orte der Besinnung darstellten, wurde hier gehandelt, gefeilscht und die nächsten Kontrakte ausgehandelt. Streitigkeiten über Verträge konnten hier von den Geweihten beigelegt werden, möglicherweise auch mit Waffengewalt. Mittelreicher hatte in den letzten Tagen genug Übung bekommen. Daher überquerte er den staubigen Innenhof und betrat die kleine Kapelle. Zwar waren auch hier Waffengehänge an allen Wänden präsent, es herrschte jedoch vergleichsweise Ruhe. Kor war kein Gott, der durch demütige Gebete zu beeindrucken war. Die einzigen Währungen, die von den Geweihten akzeptiert wurden, waren Gold und Blut. Die Geldstücke, die Mittelreicher bei den Ferkinas von seiner eigenen Kompanie erbeutet hatte, waren beides. Der in rotes Leder gekleidete Geweihte nickte knapp als ein Dukat mit blechernem Scheppern im Opferstock landete.
Am Abend machte sich Mittelreicher auf den Weg nach Al’Uruch, um sich mit Tulachim und den Wächtern von Nareb zu treffen. Die riesige Nekropole Fasars lag mehrere Meilen entfernt vor der eigentlichen Stadt inmitten mehrerer grasbewachsener Hügel. Die Stadt mochte sich einst bis zu diesem Gebiet ausgedehnt haben, nun zeugten nur noch vereinzelte Ruinen und Steinhaufen von früherer Zivilisation. Mittelreicher hatte noch nie zuvor dieses Gebiet betreten. Als die abertausend Gräber zwischen dem Hügel auftauchten, war er fast genauso beeindruckt, wie zu dem Zeitpunkt als er das erste Mal die Türme von Fasar erblickt hatte. Das Gebeinfeld sah aus, als ob alle Völker Aventuriens hier ihre Toten bestatteten. Nicht nur die schiere Anzahl war beeindrucken, auch die Vielfältigkeit der Grabanlagen würde man sonst nirgendwo auf dem ganzen Kontinent finden. Vereinzelt waren sogar kleine Pyramiden zu erkennen. Mittelreicher erschauerte bei dem Gedanken, dass sich diese noch aus den Zeiten der Echsenherrscher erhoben. Die meisten Gräber waren jedoch einfache Erdhaufen mit kleiner Steinplatte und eingemeißeltem oder frisch geflochtenem Boronsrad. Beim Gedanken an den unbestechlichen Gott des Todes überkam überlegte Mittelreicher, ob er nicht diesen anbeten sollte. Geopfert hatte er ihm sicher schon oft genug, aber wahrscheinlich spielte dies bei einer so unnahbaren Gottheit keine Rolle. Seine Schritte führten Mittelreicher zu den erhabeneren Grabbauten. Hier standen kleine überwucherte Mausoleen und Gräber, die schon fast an Paläste erinnerten. In Fasar hätte ein solcher Bau mit Sicherheit mehreren Familien Platz geboten. Der Lärm von Spitzhacken führte den Söldner zu einem der eher kleinen Mausoleen. Die Familiengruft war bezeichnend für Nareb und seine Familie. Die Stilelemente, wenn man sie denn als solche bezeichnen konnte, waren ohne Rücksicht auf Geschmack aus allen Epochen und Kulturen zusammengewürfelt. Billiger Marmor wurde durchbrochen von maraskanischen Holzeinlegearbeiten, geschmückt mit angelaufenen Messingbeschlägen. Das Grabmal war ebenfalls überwuchert und schlecht gepflegt. Entweder war selbst Nareb die pompöse Hässlichkeit des Bauwerks aufgefallen oder, was Mittelreicher für sehr viel wahrscheinlicher hielt, pflegte er keine besonders gute Beziehung zu seinen dahingeschiedenen Verwandten. Denn im Moment waren die beiden Wächter damit beschäftigt, den Boden des Gebäudes mit Spitzhacken aufzubrechen. Der Magier war bereits eingetroffen und lehnte gelangweilt an einer Wand. Zwar patrouillierten mehrere Wächter auf dem Gelände, aber schließlich konnte niemand Nareb verbieten ein Loch in seinem eigenen Grabmal auszuheben. Nichts lag an diesem Ort näher.
„ Sei gegrüßt mein waffenfertiger Freund“ begrüßte Tulachim überschwänglich den Mittelreicher. „Ich fürchte euer Name ist mir entfallen und bitte vielmals um eure Vergebung und die eurer angesehenen Familie sowie eures Vaters.“ Der Mittelreicher hatte überlegen müssen, wann er mit dem Magier Freundschaft geschlossen hatte, unterbrach jetzt aber doch den Redefluss des Tulamiden: „Meine Name wurde nicht genannt und muss auch nicht genannt werden. Mittelreicher ist völlig ausreichen.“ „Sicher mein Freund! Nichts verstehe ich besser als den Stolz auf sein großartiges Volk und seine Errungenschaften, obwohl die Errungenschaften meines Volkes natürlich sehr viel größer sind.“ Der Tulamide geriet kurz ins Stocken. „ Natürlich ist mein Volk ja auch sehr viel älter als eures und das große Mittelreich wird sicher noch Gelegenheit haben, um auch große Errungenschaften zu vollbringen.“ Mittelreicher hatte sich schon lange daran gewöhnt, das die Überheblichkeit der Tulamiden alles andere als böse gemeint war und hatte in seinem Land zugegebener Maßen nicht die glücklichste und einfachste Vergangenheit gehabt. Daher schluckte er kurzerhand den bissigen Kommentar herunter. Ein großer Teil der Tulamidenlande stand momentan unter mittelreichischer Herrschaft beziehungsweise unter der Herrschaft der Familie Gareth. „Wie lautet der Plan?“ Tulachim holte kurz Luft. „Bei Arbeiten am Grabmal meines hochverehrten Fürsten Nareb wurde ein Tunnel entdeckt. Alten Aufzeichnungen zu Folge führt er auch zum Turm von Narebs unliebsamem Handelspartner. Dieser ist von außen uneinnehmbar, aber von innen könnte uns ein Schlag gelingen!“ Mittelreicher runzelte die Stirn. Er mochte nicht fragen, um welche Aufzeichnungen es sich dabei gehandelt hatte und schon gar nicht um welche Art von Grabungsarbeiten. „Sind das die einzigen beiden Wächter, die uns Nareb zugeteilt hat?“, fragte er mit einem Kopfnicken zu den beiden Gestalten, die ihre Grabungsarbeiten eingestellt hatten. Offensichtlich war der Tunnel jetzt frei. „Umso weniger Kämpfer, desto weniger werden wir auffallen. Außerdem wird die gesamte Ehre unser sein. Die Geschichtenerzähler werden noch lange nach unserem ruhmreichen Dahinscheiden von den Heldentaten des großen Magus Tulachim ibn Tulef und des…. ähm…. Mitteleichers berichten.“
Mittelreicher war das ganze zwar mehr als suspekt, aber mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stieg er in den freigelegten Tunnel hinab. Das Gewölbe war alt. Er hatte eine Erdhöhle erwartet. Ähnlich wie ein riesiger Maulwurfstunnel. Der Gang war jedoch ausgekleidet mit Marmor. Wahrscheinlich war der Stein einst deutlich wertvoller gewesen als die Wände des Mausoleums, jetzt war er jedoch überwuchert mit Pilzen und anderen Gewächsen, die im feuchten Untergrund auch ganz ohne Licht prächtig gediehen. Geschickt fing Mittelreicher eine Fackel auf, die von oben durch das Loch geworfen wurde. Im faden Lichtschein erkannte er, dass der Weg in beide Richtungen deutlich bergab führte. Die eine Route würde sie zum Turm von Narebs Konkurrenten bringen. Die Gegenrichtung könnte bis unter den Raschtullswall führen: Das Licht der Fackel verlor sich zwar nach einigen Metern, aber im dumpfen Dämmerzustand dahinter war keine Kurve oder Biegung auszumachen. Mittelreicher erschauerte bei dem Gedanken, das ganze Steinmassiv des Raschtullswalls über seinem Kopf zu haben. Geschickt, wie es sich für einen Bücherwurm kaum vermuten ließ, kletterte nun Tulachim durch das Loch. Es folgten die beiden Wächter. Sie waren zwar mit eindrucksvollen Krummsäbeln bewaffnet und wiesen auch einen beachtlichen Körperumfang aus, dieser setzte sich jedoch mehr aus Fett als aus Muskeln zusammen. Ganz offensichtlich waren es beide Wächter mehr gewohnt, Wache zu stehen als tatsächlich zu kämpfen.
Stumm begann die kleine Gruppe ihren Marsch in Richtung Stadt. Unter dem drückenden Gewicht der Erde schienen selbst dem gesprächigen Tulamiden die Worte im Halse stecken zu bleiben. Weder der Gang, noch der Bewuchs änderten sich über viele Hundert Schritt. Nur ein zunehmender Geruch von vergammeltem Fisch stach der Gruppe immer penetranter in die Nasen. Der Mittelreicher hatte bereits begonnen zu zweifeln, ob sie überhaupt jemals irgendwann irgendwo ankommen würden, als das Licht der Fackeln plötzlich von einem Hindernis zurückgeworfen wurde. Nach einigen weiteren Schritten konnte die Gruppe eine massive Stahltür erkennen. „Kommt die auch in deinem Plan vor?“, feixte der Mittelreicher. Die Tür war über und über mit seltsamen Schriftzeichen und Abbildungen bedeckt. Die Anordnungen wirkten seltsam unmenschlich. Zwar waren tatsächlich einige Menschen abgebildet, aber auch andere humanoide Gestalten mit Schwänzen und andere Abbildungen, die kaum länger zu fixieren waren, ohne dass sich eine Art unangenehmes Ziehen im hinteren Teil des Kopfes einstellte. Tulachim musterte die Abbildungen ebenso besorgt wie Mittelreicher und meinte dann: „Ich werde diese Tür mittels einiger mächtiger Zauberformeln öffnen. Die Kunst der entsprechenden arkanen Invokation beansprucht natürlich eine angemessene Zeitspanne.“ Als der Redefluss des Tulamiden kurz zum Erliegen kam war aus dem Rücken der Gruppe ein deutliches Scharen zu vernehmen. Mittelreicher fuhr herum. Wie konnte das sein? Sie waren an keiner Abzweigung vorbeigekommen. Zumindest soweit man das bei dem dichten Bewuchs der Wände sagen konnte. Im Fackelschein war noch nichts zu sehen. Wenn da jemand hinter ihnen war, dann sicherlich ohne Lichtquelle. Sie saßen in der Falle. Sein großes Schwert konnte Mittelreicher im engen Gang ebenfalls kaum effektiv nutzen. „Beeil dich Tulachim ibn Tulef!“ „Wie gesagt, die Kunst der Invokation benötigt eben eine angemessene Zeitspanne für die richtige…“ Mittelreicher grunzte. „Verdammt, beeil dich! Wir bekommen Gesellschaft!“ Im Fackellicht waren eine Vielzahl wankender Gestalten aufgetaucht. Sie bewegten sich langsam, aber unaufhaltsam in ihre Richtung. Mittelreicher konnte Schwänze ausmachen und plötzlich wurde der Geruch nach altem Fisch unerträglich. Einer der Wächter schien mehr erkannt zu haben als Mittelreicher. Er schrie einen spitzen Schrei auf Tulamidya aus, ließ seinen Säbel fallen und rannte auf die Tür zu. Der zweite Tat es ihm gleich. Verrückt geworden, zerrten beide verzweifelt an der großen Stahltür. Vergeblich. „Verdammt! Lasst den Magier seine Arbeit machen!“ Keiner von beiden hörte auf den Mittelreicher. Jetzt sah dieser ebenfalls im Fackelschein die schrecklichen Monster. Es musste sich um Echsenmenschen handeln. Er hatte für das Kaiserreich auf Maraskan gekämpft und dort die humanoiden Echsen schon einmal gesehen. Das Schuppenkleid dieser Exemplare war jedoch verfault und zeigte das stinkende Fleisch an vielen Stellen. Diese Gestalten waren nicht am Leben. Hier war dunkle Magie am Werk Verdammte Niederhöllen. Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer. Er befreite die Boronssichel aus dem Rückengehänge und umfasste die ungeschliffene Seite mit der Linken, geschützt durch einen Kettenhandschuh. Nun konnte er die Waffe zumindest provisorisch auch auf dem engen Raum nutzen. Zwei Kräftige Schläge und Narebs Wächter lagen tot am Boden. „Magier! Mach deine Arbeit!“ Die Untoten waren heran. Unter der zweihändig gepackten Sichel fiel bereits das erste Monster. Als das zahnbewerte Maul vom Rumpf getrennt wurde, steigerte sich der Gestank nochmals ins Unendliche. Eine Kralle versuchte nach dem Kopf von Mittelreicher zu greifen und schrammte über seine Kettenhaube. Er ließ sich zu rechten Seite wegleiten und versetze der Gestalt mit der Spitze des Zweihänders einen Stich knapp unterhalb des Gaumens und ließ den Stahl bis zur Schädeldecke weitergleiten. Endlich vernahm er die rettende Stimme Tulachims: „Foramen, Foraminor!“ Dann ein Klicken und ein Quietschen. Die Tür hatte sich geöffnet und der dünne Magier stemmte sie gerade mit aller Kraft auf. Die Wesen mit kräftigen Hieben auf Abstand haltend zog sich der Söldner zurück. Der Strom der Gegner ebbte nicht ab. Es war unmöglich, sich zur Flucht zu wenden. Von hinten hörte Mittelreicher die Stimme Tulachims: „Runter! Ignisphaero!“ Mittelreicher reagierte fast zu langsam. Er spürte bereits die Hitze der Magie im Rücken, als er sich fallen ließ und ein großer Feuerball die Untoten vor ihm zurückdrängte. Trotz seiner schwelenden Nackenhaare sprang er sofort wieder auf, an der Tür vorbei und stemmte sich von der anderen Seite zusammen mit Tulachim und aller Macht gegen die Stahltür. Langsam begann sie sich zu bewegen. Schließlich hörte er das befreiende Klicken: Die Tür war ins Schloss gefallen.
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Mittelreicher
Rahja 1016 BF
Rasselnder Atem in der Dunkelheit. Plötzlich flammte in dem Gang unter Fasar ein Licht auf. Etwas raschelte und einige Ratten begaben sich auf die panische Flucht vor dem ungebetenen Ruhestörer. Tulachim und Mittelreicher rangen heftig nach Atem. Auf der anderen Seite der Stahltür war ein beständiges Schaben und Kratzen zu hören, aber sie hielt. Tulachim hatte eine Fackel entzündet, ganz gewöhnlich mit Feurstein, Stahl und Zunderschwamm. Mittelreicher hob eine Braue: „Ihr habt gerade den halben Tunnel in Brand gesteckt und entzündet eine Fackel auf diese Art und Weise?“ Er nickte mit dem Kopf auf Tulachims Magierstab, der einsam auf dem Boden lag: „Wir hatten einst einen Magier bei uns im Feld. Sein Stab brannte am oberen Ende, ohne kürzer zu werden.“ Tulachim musterte im Schein der Fackel den reich verzierten Stab. Die feinen Holzschnitzereien waren mit Silber ausgelegt. „Manchmal geht nichts über ein richtiges Feuer, meint ihr nicht?“ Mittelreicher musste grinsen, auch wenn ihre Situation alles andere als phexgefällig aussah.
Durch die Tür zurück war keine Option, also machten sie sich weiter in Richtung Stadt auf. Nach einer halben Ewigkeit stieg der Gang wieder an. Sie waren mittelweile an mehreren Abzweigungen vorbeigekommen, aber Tulachim hatte stets nur den Kopf geschüttelt, jetzt bog er in einen der Seitengänge ab. Mittelreicher würde gut auf den Magier achtgeben müssen. In kurzer Zeit würde er sich hier drin hoffnungslos verirren. Schließlich erschienen Trittstufen aus Metall in einer Seite des Gangs. Tulachim machte Anstalten hinaufzuklettern. Mittelreicher hielt ihn zurück. „Woher wisst ihr, dass wir den Wachen nicht in die Arme laufen?“ „Das weiß ich nicht, aber Feqz wir meine Schritte dämpfen und je mehr wir auf ihn vertrauen, desto mehr werden wir ihm gefallen. Außerdem haben wir ohnehin keine Wahl.“ Mit diesen Worten griff er in das Loch über seinen Kopf und begann einige Bretter beiseite zu schieben. Sein Kopf verschwand in der Dunkelheit und tauchte kurz danach wieder auf: „Alles in Ordnung, wir können hoch.“ Das ungleiche Paar ließ die Fackel zurück.
Im Raum über dem Tunnel herrschte dämmriges Zwielicht. Durch einige Lücken in einer Bretterwand drang fahles Mondlicht. Noch eben vom Schein der Fackel geblendet, brauchten die Augen Mittelreichers kurz, um sich an das schwache Licht zu gewöhnen. Sie waren umgeben von Pfannen und Töpfen. An der Wand gegenüber waren fein säuberlich riesige Hackmesser aufgehängt. Sie hatten ganz augenscheinlich die Küche im Turm von Narebs Konkurrenten erreicht. Die Küchen und Werkstätten befanden sich, ebenso wie die Werkstätten, im Erdgeschoss der Türme.
Tulachim war bereits dabei, mit einem Dolch den Riegel auf der Außenseite der Holztür hochzuhebeln. Das Quietschen der alten Angeln ließ Mittelreicher zusammenzucken. Als sie durch die Tür traten, öffnete sich vor ihnen der kleine Innenhof vor dem Turm des Erhabenen. Er war umgeben von kleinen Holzverschlägen. Die Küche bildete einen davon. In ihrem Rücken erhob sich der dunkle Turm. Genau auf der anderen Seite des Hofs waren zwei Wachen zu sehen, gekleidet in Kettenhemden aus aufgenähten Ringen.
Einer der beiden schien gerade einen Witz gemacht zu haben, denn schallendes Gelächter durchbrach die Nacht. Tulachim formte einige kurze Zeichen mit seinen Händen. Mittelreicher erkannte die Zeichensprache als Atak. Er kannte nur einige Fingerfiguren dieser geheimen Händler- und Diebessprache. Er hatte sie einst bei einer leisen Operation wie dieser gebraucht. Sie verständigten sich darauf, die Treppe zur Haupttür des Turms hinaufzuschleichen. Die unaufmerksamen Wachen nahmen keine Notiz von ihnen. Der Tür war mit schweren Beschlägen versehen. Mittelreicher sicherte die Treppe hinunter in den Hof. Die beiden tulamidischen Wächter waren immer noch mit ihren Scherzen beschäftigt. Wieder vernahmen Mittelreicher das mystische „Foramen Foraminor“ nach einem Klicken. Vorsichtig schob Tulachim den schweren Flügel ein Stück auf. Der Magier und der Söldner schoben sich in den dahinterliegenden Gang. Er war hell erleuchtet von zahlreichen Fackeln, befestigt an messingfarbenen Haltern an der Wand. Ihre Schritte wurden von edlen Teppichen gedämpft. Allein die Kostbarkeiten, die hier den Boden schmückten und von ihnen mit Füßen getreten wurde, waren wahrscheinlich mehr wert, als der Sold, den Mittelreiche in seinem ganzen Leben verdienen würde. Selbst wenn der ganze Kontinent Aventurien für die nächsten Jahre mit Krieg überzogen werden sollte.
Gleich zu ihrer rechten Seite befand sich eine steile marmorne Wendeltreppe. Der Gang teilte sich weiter vorne zu mehreren Zimmern. Wahrscheinlich die der besser gestellten Bediensteten oder der Konkubinen. „Die Räumlichkeiten des Erhabenen werden sich im obersten Stock befinden“ meldete sich Tulachim zu Wort. Mittelreicher antwortete nur mit einem Nicken in Richtung der Treppe. Insgesamt passierten die beiden fünf Stockwerke. Mittelreicher hatte schon das Erdgeschoss für prachtvoll gehalten, doch jede Etage wurde beeindruckender. Im fünften Stock waren schließlich nicht nur der Boden, sondern auch die Wände mit kostbarem Marmor verkleidet. An vielen Stellen war dieser jedoch nicht einmal zu sehen. Denn prunkvolle Wandteppiche herrschten hier vor. Ein Motiv nahe der Treppe weckte das Interesse von Mittelreicher. Er trat aus der Wendeltreppe heraus auf das Kunstwerk zu. Die Fäden waren zu einem plastischen Feuer verwoben. Obwohl das Bild nur aus Feuer und Rauch zu bestehen schien, vermittelte es nichtsdestotrotz Leben oder zumindest Präsenz. In der Mitte war eine Gestalt mit Kaftan zu sehen, ähnlich dem von Tulachim. In diesem Moment legte der Magier dem Mittelreicher die Hand auf die Schulter. „Mein Freund, ich weiß, die Kunstfertigkeit unseres Volkes mag beeindruckend sein, aber wir müssen weiter und unseren glorreichen Auftrag zu Ende bringen. Zu unserem Ruhm und zu dem unseres Meisters Nareb.“ Mittelreicher musste unbewusst grinsen. Selbst in dieser bedrohlichen Situation verlor der Tulamide nicht seine blumige Ausdrucksweise und sein fast schon liebenswertes Überlegenheitsgefühl. „Hier stimmt etwas nicht. Es ist zu einfach. Warum ist uns auf der ganzen Treppe keine einzige Wache begegnet?“ Tulachim zog eine der gepflegten Augenbrauen in Richtung der Stirn: „Sie erwarten keinen Angriff von innen. So sehr ich auch unseren großen Meister Nareb schätze und würdige: Meint ihr nicht das das Leben umgeben von Diener und Wohlsprechern vielleicht zu selbstsicher und vielleicht … überheblich werden lässt?“ Mittelreicher antwortete nicht, sondern stieg die Treppe empor. Am oberen Ende kamen sie zu einer Tür mit kunstvollen Schnitzereien. Sie war nicht einmal verschlossen, sondern nur angelehnt. Mittelreicher trat leise hindurch. Der Prunk dahinter überstieg Narebs Einrichtung bei weitem, war aber nicht halb so geschmacklos. Die ganze Etage schien aus einem einzigen Raum zu bestehen, abgeteilt durch seidene Tücher und Vorhänge. Erhellt würde die ganze Szene von einem großen Kohlenbecken. Das Feuer flackerte heftig und spiegelte sich in einem großen Wasserbecken in der Mitte des Raumes wider.
„Nareb hat seine Lakaien geschickt!“ Rief es urplötzlich deutlich zu laut aus dem Raum. Am Kohlenbecken stand ein Tulamide. Für sein Volk erstaunlich hoch gewachsen mit dunklen Haaren und perfekt gestutztem Bart. Seine Robe war mit Symbolen aus dem Urtulamidya bedeckt. “Das Feuer!“ vernahm Mittelreicher erstaunlich einsilbig von Tulachim. Jetzt sah es der Söldner auch. Die Flammen flackerten wild und wuchsen an, obwohl im Raum kein einziges Lüftchen wehte. Mittelreicher hatte schon einige Male auf dem Schlachtfeld Magiern gegenübergestanden. Seiner Meinung war es das Beste ihnen aus dem Weg zu gehen, bis ein Bogen- oder Armbrustschütze sein Ziel gefunden hatte. Das kam jetzt allerdings nicht infrage. „Schütze uns mit deiner Magie!“ Rief der Mittelreicher hilflos Tulachim zu. „Ich fürchte das kann ich nicht.“ Mit diesen Worten versetze Tulachim dem Mittelreicher einen kräftigen Stoß, der den sonst so standfesten Kämpfer in das Becken fallen ließ. Sofort wurde er von seinem Kettenhemd auf den Boden gezogen. Neben ihm nahm er eine Gestalt im Kaftan war. Das Wasser erwärmte sich schlagartig. Das Gefühl, sich in einem Kochtopf zu finden stieg in Mittelreicher hoch und wurde vom freien Fall abgelöst.
Langsam kam er wieder zu sich. Er war nass. Seine Lungen waren mit Rauch gefüllt. Um sich herum lag der Marmor des Beckens verstreut und zerbrochen. Er befand sich im Stockwerk unter der Etage des Erhabenen. Aus dem Loch durch das sie gebrochen waren, loderten Flammen. Jetzt erst merkte er, das Tulachim an seinem Kettenhemd zerrte: „Wir müssen hier weg!“ Von überall waren Schreie zu hören. Das Trampeln von beschlagenen Stiefeln kündigte zahlreiche Wachen an. Spitze schreie deuteten darauf hin, dass sie sich jetzt auf dem Stockwerk der Konkubinen befanden. Benommen nahm Mittelreicher wahr, wie der Magier ihn auf eines der kleinen Fenster zuschob.
Etwa drei Meter unter ihnen konnte Mittelreicher eine der Hängebrücken erkennen, welche die Türme der Erhabenen verband und ihnen ermöglichte sich durch Fasar zu bewegen, ohne einen Fuß auf die schmutzigen Straße zu setzen. Im benommenen Hinterkopf des Mittelreichers formte sich ein beunruhigender Gedanke. Plötzlich umfing ihn die kalte Nachtluft und seine Füße verließen den festen Boden.
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23.06.2017, 12:33
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 23.06.2017, 12:33 von Steve Barnes.)
Ich glaube, die Vorschau sollte jetzt ausreichen, um sich ein Bild zu machen. Wer Lust bekommen hat, kann sich den kompletten ersten Teil als „Pay What you Want“ bei Ulisses runterladen.
http://www.ulisses-ebooks.de/product/214159/Gezeichneter-Schatten-1-2?src=newest_community&filters=44310
Fragen beatworte ich gerne an dieser oder anderer Stelle.
So, das war jetzt mein letzter Doppelpost. Danke an die Moderatoren für Ihre Geduld und die Möglichkeit mein Projekt vorzustellen . Wenn jemand auch nur halb so viel Spaß beim Lesen hat, wie ich beim Schreiben, bin ich zufrieden.
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