(31.07.2010, 11:34)Zurgrimm schrieb: Und ich glaube, genau da liegt der Knackpunkt. Diese Grundthese ist die Basis für vieles in Deinen Argumentationen. Da ich hier eine gegenteilige Sicht habe, auf der meine Argnumente beruhen, werden wir da nicht überienkommen.Okay. Damit hab ich kein Problem - solange ich das Gefühl habe, dass ich meine Position klar machen konnte. Deshalb muss ich leider eine Sache noch einmal aufgreifen und richtigstellen. Das ist mir wichtig, vor allem auch für andere User und zukünftige Diskussionen.
Zurgrimm schrieb:Die Idee, den Menschen dazu zu "erziehen", sich nicht egoistisch, sondern gemeinschaftsfreundlich zu verhaltern, ist nicht neu. Es ist die sozialistische Idee. Nur hat der realpraktizierte Sozialismus nirgendwo auf der Welt längerfristig zu befriedigenden Ergebnissen geführt (soweit mir bekannt).Da verstehst du mich immer noch nicht richtig. Ich vertrete diesen Standpunkt nicht. Ich bin weder Sozialist, noch links, noch sonstwas. Ich muss jetzt wohl etwas ausholen, aber es ist gut, dass du das Stichwort "Erziehung" ins Spiel bringst.
Ich bin der Meinung, dass man den Menschen eben gerade nicht erziehen sollte, sondern dass es für alle besser wäre, wenn der Mensch sich loslöst von aufgezwungener Anpassung, damit er sich nach seinen eigenen Bedürfnissen frei entfalten kann. Danach sollte eine gewisse Anpassung ohne Probleme möglich sein (das so genannte "sich Einfügen in die Gesellschaft"), da der Mensch "weiß, was er ist". Wenn er seine eigenen Bedürfnisse kennen und sich nach ihnen richten darf, "klappt's auch mit dem Nachbarn".
Jetzt sollte ich vielleicht erklären, was für mich "keine Erziehung" bedeutet, weil das auch gerne missverstanden wird - zumindest wenn es um Kindererziehung geht. Was es jedenfalls nicht bedeutet, ist, die Menschen zurück zu ihren animalischen Wurzeln zu lassen. Die sind im Homo Sapiens bestimmt nicht mehr so vorherrschend, dass sie zu einer ernsten Gefahr werden könnten. "Keine Erziehung" heißt auch nicht "allein lassen". "Keine Erziehung" heißt nicht "antiautoritäre Erziehung", denn auch das ist immer noch Erziehung.
"Er-Zieh-ung" ist für mich mittlerweile ein sehr negativ besetztes Wort (dank Alice Miller). Genau auf den Punkt erklären kann ich es mit Sicherheit nicht, aber in diesem Kontext vielleicht eingrenzen als "den Versuch, einen Menschen 'gefügig' zu machen, sodass er sich fremden Bedürfnissen unterordnet". Insbesondere werden dabei eben die eigenen Bedürfnisse unterdrückt. "Unterdrückt" wiederum heißt nicht, das die Bedürfnisse bloß nicht erfüllt würden, sondern dass ihnen die Legitimation abgesprochen, ihre Wichtigkeit heruntergespielt, ihre Existenz und Bedeutung für den, der sie empfindet, nicht ernstgenommen wird.
Da fällt mir noch ein Gedicht ein, über das ich vor ein paar Wochen gestolpert bin (lang lebe das Internet!).
Unbekannt schrieb:Wenn ich nur darf, wenn ich soll,
aber nie kann, wenn ich will,
dann mag ich auch nicht, wenn ich muss.
Wenn ich aber darf, wenn ich will,
dann mag ich auch, wenn ich soll,
und dann kann ich auch, wenn ich muss.
Denn:
Die können sollen, müssen wollen dürfen.
Ich bin der Ansicht, dass der Mensch in unserer Gesellschaft (und allen bisherigen) eben genau so behandelt wird. Er wird - wie gesagt zum Teil gewollt - zu Egoismus und Rücksichtslosigkeit erzogen und gleichzeitig werden schon von klein auf seine eigenen, intrinsischen Bedürfnisse in einem Maße unterdrückt, dass es schädlich für ihn und letztlich auch für seine Umwelt ist. ("Wer geschlagen wird, lernt schlagen", etc.) Das meine ich mit "erzeugt".
Um kurz zum ursprünglichen Thema zurückzukommen: Gerade Hartz IV ist eines der schlimmeren Erziehungssysteme, weil die Bedürfnisse des einzelnen dort wirklich kaum beachtet werden und die Erziehung ihnen so offensichtlich entgegen gerichtet ist.
Ich glaube nicht, dass ein System, in dem die Menschen gezwungen sind, permanent wider ihre Natur zu leben, langfristig Bestand haben kann. Es mag kurzfristig (<100 Jahre?) so funktionieren, alle unter einem Hut zusammenzuhalten, aber die Eigendynamik (die unterdrückten Menschen beginnen sich zu wehren) erfordert mit fortschreitender Zeit, dass das System die Daumenschrauben immer enger drehen muss. Dann geraten wir in die erwähnte Spirale. Nur, beliebig eng kann man die Schrauben nicht stellen (auch nicht bei den Deutschen ). Das heißt, letztlich bleibt der Menschheit als Gesamtes aus meiner Sicht nichts anderes übrig als eine Gesellschaftsform zu finden, in der alle Menschen gleich respektiert werden und insbesondere jedes ihrer möglichen Bedürfnisse ernstgenommen wird.
Davon sind wir aber weit entfernt. Denn egal ob sozialistisch oder kapitalistisch - bisher wurden Gesellschaften immer von Menschen geschaffen, die anderen ihre Sicht/"Ideologie" aufzwingen wollten. Da hat der realpraktizierte Kapitalismus dem realpraktizierten Sozialismus nichts voraus. Solange die Basis einer Gemeinschaft ist, dass eine Gruppe von x Menschen über y andere entscheidet - behaupte ich -, kann daraus kein Selbstläufer werden (solange y > 0 ). Davon wegzukommen, erfordert allerdings ganz neue, kreative Ansätze und Konzepte, wie man menschliches Zusammenleben "im großen Stil" gestalten kann. Denn bisher gab es so etwas meines Wissens nach noch nicht?
Noch ein anderes Detail: Ich behaupte nicht unbedingt, dass der Mensch im Kern ein absolut soziales, friedfertiges Wesen ist. Ich kann nicht sagen, wie er ist, ich behaupte nur, dass er nicht so ist, wie er oft gesehen wird. Deshalb sage ich: Der Mensch ist von Natur aus sozialer als viele annehmen. (Ich entschuldige mich hier einmal pauschal für unsaubere Ausdrucksweise im Eifer des Gefechts. )
Ich prangere an, dass das natürliche Wesen potenziell jedes Menschen in unserer Gesellschaft ignoriert und missachtet wird - und behaupte, dass (nicht ausschließlich!) dies zu den Problemen führt, mit denen wir heutzutage vermehrt kämpfen. Wir kämpfen gegen Symptome, die wir selbst erzeugen!
Great people care.