03.05.2020, 19:23
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 04.05.2020, 20:59 von Fíonlaighrí.)
Unterwegs, 2. Travia
Die Karawanenroute zwischen Norburg und Riva über den Rabenpass existiert seit Jahrhunderten und dennoch ist es für mich das erste Mal, dass ich sie bereise. Ich könne mich glücklich schätzen, so Meister Sternenlicht, mich dieser wohl letzten größeren Reisegesellschaft anschließen zu können, die vor Einbruch des Winters in Richtung Westen aufbricht. Wenn es gut läuft, werden wir wohl nach neun Nächten Gerasim erreichen. Hoffentlich werde ich dort genügend Zeit haben, die „Schule des direkten Weges“ besichtigen zu können. Ich habe schon viel Interessantes darüber gelesen. Zum Totenfest am 1. Boron sollten wir dann spätestens die Metropole am Kvill erreicht haben.
Mahrenhus, 3. Travia
Dieser Mond steht im Zeichen der Gans, das ist nicht zu übersehen. Fest der eingebrachten Früchte. Überall werden Felder abgeerntet, Scheunen gesegnet, Gänse gefüttert. Wofür bin ich dankbar?
Unterwegs, 4. Travia
Verlassen die Zivilisation. Vor uns liegt der gewaltige Rabenpass. Außerdem ist heute Tag der Helden. Calenleya wird sich feiern lassen. Soll sie doch. Hier in der Wildnis bekomme ich es schon nicht mit.
Unterwegs, 5. Travia
Ich habe viel Zeit zum Nachdenken. Wenn ich so recht überlege, waren viele, genauer gesagt alle meine Kommilitonen – so schwer es fällt, mir das einzugestehen – keine Freunde. Immer nur über sich selbst gesprochen, meine Gewissenhaftigkeit zum Lernen ausgenutzt, um sich an mich dranzuhängen. Aber ihre Feste, ihr Vergnügen, ich will es mir gar nicht weiter ausmalen, all dazu haben sie mich nicht gebraucht. Im Gegenteil, sie haben versucht, mich möglichst aus allem rauszuhalten, was nichts mit Studium zu tun hatte. Bosparano, Götterkunde, Spruchmagie – dafür war ich gut genug. Aber Tanzen, Musizieren, Zecherei – immer die gleiche Antwort: Keine Zeit, Aukaju, bin nicht so gut im Lernen wie du. Muss dafür mehr Zeit investieren. Von wegen. Jetzt sehe ich es klar vor mir wie die Berge der Gelben Sichel. Ich habe nicht nur keine Familie – ich habe auch keine Freunde. Dascha, Ibron, Sanja, Ganri und all die anderen – ich wünsche euch ein schönes Leben! Calenleya brachte wenigstens den Mut auf, mir ins Gesicht zu sagen, dass sie mit mir nichts zu tun haben wolle, weil sie mich als ihre größte Konkurrentin betrachte. Die bittere Erkenntnis des Tages lautet, dass ich auf mich allein angewiesen bin. Dieses Mal jedoch werde ich mir nichts schönreden und auch nicht herumjammern. Ich bin eine erfolgreiche Absolventin der Halle des Lebens und ich werde dem Schicksal mutig entgegentreten.
Unterwegs, 8. Travia
Haben den Rabenpass überquert. Hatte es mir schwieriger, gefährlicher vorgestellt. Außer einem alten Boronkloster gibt es da auch nichts groß zu sehen. Für mich ist das Bezwingen dieses Passes jedoch weit mehr. Ich habe mein altes Leben bezwungen. Vor mir ein neues Leben, mutig, schnell und erfrischend wie der junge, reine glasklare Lauf des Oblomon. Noch drei Nächte bis Gerasim und zwanzig bis Riva!