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Efferdmorgen
#41
Overthorn, 21. Schlachtmond. Es ist Traviasdag.
Gegen Abend haben wir nach einer ruhigen und ereignislos verlaufenden Seefahrt die Hafenstadt Overthorn erreicht. Die gesamte Reise über stand ich an der Reling und starrte wie gebannt auf die graublaue Oberfläche des Hjaldinggolfs. Keine Spur von Svanja oder Isidor. Wieso auch? Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber wann ist das? Ich bin froh, dass ich einen Auftrag zu erfüllen habe, das lindert den Schmerz zumindest ein wenig.
"Überdorn" - so heißt die hiesige Stadt auf Garethi - weil sie auf einer Halbinsel über der Premer Halbinsel liegt, die die Form eines Dorns hat. So wie dieser Dorn im "Fleisch" der Halbinsel liegt, hatte ich ebenfalls noch eine Art Dorn in meinem Fleisch zu bereinigen. Swenjar Haldason oder so ähnlich lautete der Name des Tätowierers, an den ich mich wenden sollte. Während Aelil sich um ein Schiff in Richtung ihrer Heimat kümmerte (wo auch immer diese sein möge), suchte ich die Schänken auf, um zu erfahren, wo jener Tätowierer wohnt, den mir Bjaki in Vaermhag empfohlen hatte. Es dauerte nicht lange, bis ich vor einem Langhaus stand und ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren mit blonden Zöpfen mir die Tür öffnete. "Wer bist du? Was willst du?", fragte sie schüchtern. "Ich bin Fion. Ist dein Vater zu sprechen?" Nun tauchte auch noch ein Junge auf, der seine Schwester darauf hinwies, dass sie keinen Fremden die Tür öffnen solle. "Swanja, du weißt doch, dass du Fremden keine Tür öffnen darfst." - "Und du, Hergrim, bist nicht mein Vater, sondern mein Bruder!" , gab das Mädchen trotzig zurück. Unnötig zu erwähnen, dass ich beim Ausruf ihres Namens erneut von Traurigkeit gepackt wurde. Währenddessen erschien auch der Vater der beiden an der Tür. Ende dreißig, blonder Vollbart und diverse Zopfflechtereien an selbigen. Unter einem weißen Umhang blitzten zwei gestählte Arme hervor, die von oben bis unten tätowiert waren. Verwundert, was ich um diese Zeit noch von ihm wolle, blickte er mich an. "Seid Ihr Swenjar Haldason?", fragte ich in meinem bestem Thorwalsch. "Der bin ich." - "Man sagt, Ihr seid ein guter Tätowierer." - "Wer sagt das?" - "Ein Freund sagt das. Aber deshalb bin ich nicht hier." - "Sondern?" - "Sondern, weil, ich eine Tätowierung gerne entfernen würde." Nach dem obligatorischen Hinweis, dass das was kosten würde und meiner Versicherung, ihn bezahlen zu können, forderte er mich auf, ihm besagte Stelle zu zeigen. Ich nahm meinen Köcher ab und Swenjar blickte auf meine entblößte Schulter. "Sieh an, sieh an", kommentierte er. "Was haben wir denn da? Sieht aus wie die Zugehörigkeit zu einer Armee." - "Was ist?", hakte ich nach. "Kommen wir ins Geschäft?" - "Nicht so hastig mein Freund. Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet." - "Ich bezahle Euch nicht fürs Fragen stellen, sondern dafür, dass Ihr diese Tätowierung entfernt." Swenjar wurde jetzt ungemütlicher: "Fremder, niemand hat Euch gezwungen, mein Haus aufzusuchen. Aber merkt Euch eins: In meinem Haus stelle ich die Fragen. Also, was ist?" - "Verehrter Meister Swenjar. Ich schätze Eure Künste sehr. Ich bin von Weitem zu Euch gekommen, um Euer Handwerk in Anspruch zu nehmen. Ich bezahle Euch dafür. Es ist Eure Entscheidung, ob Ihr ein Geschäft machen wollt oder nicht." Swenjar jedoch schienen meine Worte kalt zu lassen. "Weite Reise ist gut. Kann es sein, dass Ihr auf der Flucht seid?" Ich wurde bleich, versuchte mir jedoch nichts anmerken zu lassen. Wie konnte er das wissen? "Nun, die Vögel zwitschern, dass ein mittelländischer Bogenschütze auf der Flucht vor seiner gerechten Strafe sei." - "Und was hat das mit mir zu tun?" Der Tätowierer wurde jetzt richtig ungemütlich. "Nun, wie ich an Eurer Aussprache unschwer höre, seid Ihr Mittelländer und Ihr tragt das Erkennungszeichen der Greifenfurter Bogenschützen." Ich war wie versteinert. Woher wusste er das alles? Ich versuchte, mich um Kopf und Kragen zu reden. "Woher wollt Ihr als Thorwaler wissen, welche Erkennungszeichen unsere Armee hat?" Er überlegte kurz. Dann gab er mir den Rest. "Ach, was soll's! Ihr könnt damit ja doch nichts anfangen. Vor einiger Zeit tauchte eine mittelländische Kriegerin hier auf, die ihr Leben der Mutter des Gottwals geweiht hatte. Ich dachte zuerst, sie wolle sich tätowieren lassen, aber dem war nicht so. Stattdessen sagte sie mir, dass sie einen Fahnenflüchtigen jage, der großes Unheil über die Stadt Greifenfurt gebracht habe. Wahrscheinlich sei er in den Norden geflohen und wolle sich seiner Tätowierung entledigen, um die Spuren seiner Vergangenheit zu verwischen. Sie werde innerhalb der nächsten Tage wieder hier vorbeikommen, vorerst müsse sie noch etwas anderes erledigen. Falls sich dieser Fahnenflüchtige jedoch bei mir melden solle, möge ich ihn an seiner Flucht hindern....Und jetzt kommt Ihr..." - Erstaunlicherweise blieb er ziemlich locker. Offenbar rechnete er nicht damit, dass ich fliehen würde. Wie sollte dies auch möglich sein? Overthorn ist von Klippen umgeben, die einzige Verbindung in die Welt ist der Hafen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr realisierte ich, dass ich keine Möglichkeit zu entkommen hatte."Was hat sie Euch dafür versprochen?", fragte ich mit dem Mut der Verzweiflung. "200 Dukaten." - "Und wenn ich Euch 1000 dafür gebe, dass Ihr mich laufen lasst, 1000 dafür, dass Ihr der Kriegerin gegenüber dichthaltet und weitere 1000 für das Entfernen der Tätowierung?" Der Alte brach in höhnisches Gelächter aus. "Und wo - wenn ich fragen darf, wollt Ihr, ein Fahnenflüchtiger, 3000 Dukaten hernehmen?" Mutig legte ich 200 Dukaten auf den Tisch, die ich noch aus unserem Beutezug von Daspota her hatte. Er staunte nicht schlecht. Ich nutzte seine Verwirrung und legte nach: "Mehr habe ich nicht. Den Rest bringe ich Euch später." Offensichtlich zeigte mein Auftreten Wirkung. "Mittelländer", wandte er sich an mich, "ich schätze Euren Mut. Ich lasse Euch laufen und nehme Euch beim Wort, dass Ihr mir den Rest bei Gelegenheit bringt. Bringt mir den Rest und ich befreie Euch von Eurer Vergangenheit." Er steckte das Geld ein und reichte mir die Hand. "Eine Frage hätte ich jedoch noch: Warum habt Ihr nicht versucht, mich von Eurer Unschuld zu überzeugen?" - "Ganz einfach. Weil ich schuldig bin." Ich drehte mich um verschwand im Dunkel der Nacht.
Aelil hatte inzwischen ein Schiff ausfindig gemacht, das morgen ausläuft und uns nach Olport mitnimmt.
Während sie treu Bjakis Wunden auswäscht, liege ich auf meinem Lager und denke nach. Wer mag diese Kriegerin wohl sein? Eins habe ich gemerkt: Ich kann nicht ewig von meiner Vergangenheit davon laufen.
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#42
Auf hoher See, 22. Schlachtmond. Es ist Jurgasdag.
Wir kommen gut voran. Der Knorr, auf dem wir reisen - die "Olafjord" - gleitet sanft, aber schnell über die geradezu idyllische See. Kein Spur von Svanja oder Isidor. Warum auch diesmal? Immerhin ist aber auch nichts von Schamaschtu oder seinen Kindern zu sehen. Während ich vor uns bereits die Grauen Berge am Horizont erblicken kann, lassen wir die Insel Gevri links liegen. Wenn es weiter so gut läuft, werden wir in zwei Tagen in Olport sein.
Aelil hat mir heute zum ersten Mal von ihrer Familie erzählt. Sie stammt aus der Sippe der Windlacher, die in der Nähe der ältesten Thorwaler Stadt beheimatet ist. Thorwaler und Windlacher sind seit Urzeiten miteinander verbündet. Allerdings unterscheiden sie sich in ihrer Geschichte gewaltig: Die Thorwaler seien, so erklärte es mir Aelil, vor unzähligen Jahren aus der Ferne über das Große Meer hierhergekommen. Die Windlachen hingegen, die schon ewig vor Ort sind, warten auf ein Schiff aus dem Nebel, das sie abholt und über den Ozean bringt. Angeblich soll es durch Flötenklänge der Elfen den Weg gewiesen bekommen. Das erklärt natürlich, warum sie so begnadet dieses Instrument zu beherrschen weiß.
Bjakis Zustand wird zusehends schlechter. Dennoch weigere ich mich, die Hoffnung aufzugeben. Wie sagt unsere Firnelfe als so schön: "Es gibt immer Hoffnung."
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#43
Dorf der Windlacher-Sippe, 25. Schlachtmond. Es ist Ifirnsdag.
„Du kommst spät, Calaerwen.“ Ruhig blickte König Cairben zu Aelil. Offensichtlich schien er ihre Anwesenheit erwartet haben. „Ich weiß, Vater“, entgegnete sie. Dann wandte sie ihren Blick zu der Frau zu seiner Rechten. Sie sagte ihr etwas auf Isdira, das ich nicht verstand. Aber ich konnte heraushören, dass es sich bei jener Elfe um Aelils Mutter handeln musste. Nach einer für Mittelländer eher zurückhaltenden Begrüßung stellte mir meine Gefährtin ihre Eltern vor: Cairben und Calaernith. Weiter erklärte sie mir, dass sie eigentlich Calaerwen heiße - mittelländisch Licht der See. Da sie unverheiratet sei, würde sie die Endung -wen tragen. Benannt sei sie nach ihrer Mutter, doch da diese verheiratet sei, trage sie mittlerweile die Endung -nith. Ihr Vater nenne sie und ihre Mutter auch gerne Aelil - was so viel wie „Schönheit“ bedeute. Sie habe sich daran gewöhnt, weshalb es mit Sicherheit nichts Gutes heiße, wenn sie ihr Vater mit Calaerwen anspreche. Er spüre, dass Lornir in Gefahr sei und wolle sich bei seiner Tochter erkundigen, ob sie ihm mehr über sein Schicksal sagen könne. Nachdem wir den König der Windlacher auf den neuesten Stand gebracht hatten, fragte ich vorsichtig wegen dem eigentlichen Grund unseres Besuches, der Hoffnung auf Heilung für unseren Freund Bjaki, nach. Er werde sich umgehend um den Bewusstlosen kümmern, antwortete er und forderte uns auf, ihn mit Bjaki allein zu lassen. Ob er wirklich helfen kann? Während wir warten, zeigt mir Aelil das Lorn - die Mündung des Nader. Ein schöner Anblick - aber auch dies kann mir die Sorge um den bewusstlosen Freund nicht nehmen.
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#44
Das ist der letzte Eintrag in Fions Tagebuch.
Wie die Saga weiterging, wissen allein die Götter. Bekannt ist, dass sich im Peraine des Jahres 1010 eine Gruppe von Helden den Orks am Einsiedlersee stellte. Mit dem legendären Schwert Grimring in der Hand besiegte einer dieser Recken Garzlokhs Elitekrieger in einem rituellen Zweikampf. Ob es sich dabei tatsächlich um Fion handelt, ist ungewiss. Vielleicht führte auch sein Freund Bjaki Fions Werk zu Ende oder sogar ein bislang völlig unbekannter Held.

Es sollte einige Jahre dauern, bis Fions Tagebuch wieder auftauchte. Thorwalsche Robbenjäger fanden es schließlich eher zufällig an der Küste einige Meilen östlich von Olport. Es war von Wellen völlig aufgeweicht und nicht mehr lesbar. Seine Finder sahen es als ein Geschenk Swafnirs an und brachten es in dessen Tempel nach Olport. So sehr sich jedoch die Swafnir-Geweihten im Gebet abmühten, der Walgott ließ sich nicht erweichen und das Geheimnis des Buches blieb ihnen verschlossen, sodass sie es in die Hände des Efferdtempels zu Olport gaben. Durch intensive Liturgie und Gebet der ortsansässigen Geweihten ließ sich der Meeresgott dazu erbarmen, die Schrift wieder lesbar zu machen. Heute wird es dort noch aufbewahrt als Zeichen der Unterstützung Efferds im Kampf um die Freiheit. Da das Buch keinen Titel aufwies, beschlossen die Efferd-Geweihten ihm einen zu geben, der seiner Heldentaten würdig ist: Efferdmorgen.
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