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Roman Gezeichneter Schatten [Spoileralarm]
#6
Mittelreicher
Rahja 1016 BF

Drückende Hitze weckte Mittelreicher aus dem Schlaf. Es musste später Vormittag sein und die Sonne stand schon seit einigen Stunden am Himmel. An Weiterschlafen war nicht mehr zu denken. Also stand Mittelreicher auf und beseitigte die grauen Bartstoppel mit einem scharfen Messer. Frühstücken wollte Mittelreicher in seiner Herberge nicht.
An einem kleinen Marktstand kaufte er sich einen Fladen und etwas Hammelfleisch. Das bunte Marktreiben war ansonsten zu dieser Tageszeit wie ausgestorben. Daher wandte sich Mittelreicher in Richtung des Viertels Mantrabad zum Tempel des Guten Kampfes. Der Kunchomer Kodex wurde auch dort hoch gehalten. Im Gegensatz zum Tempel des Guten Goldes verehrte dieser Tempel weniger den finanziellen Aspekt des Söldnertums, sondern mehr das zügellose Wesen des Söldnergottes Kor: Die Fähigkeit völlig in der Schlacht und im Schlachten aufzugehen.
Schon von weitem drang aus dem roten Backsteingebäude der Lärm von Waffen. Auf dem staubigen Innenhof wurde mit hölzernen und auch scharfen Waffen geübt. Wo andere Tempel Orte der Besinnung darstellten, wurde hier gehandelt, gefeilscht und die nächsten Kontrakte ausgehandelt. Streitigkeiten über Verträge konnten hier von den Geweihten beigelegt werden, möglicherweise auch mit Waffengewalt. Mittelreicher hatte in den letzten Tagen genug Übung bekommen. Daher überquerte er den staubigen Innenhof und betrat die kleine Kapelle. Zwar waren auch hier Waffengehänge an allen Wänden präsent, es herrschte jedoch vergleichsweise Ruhe. Kor war kein Gott, der durch demütige Gebete zu beeindrucken war. Die einzigen Währungen, die von den Geweihten akzeptiert wurden, waren Gold und Blut. Die Geldstücke, die Mittelreicher bei den Ferkinas von seiner eigenen Kompanie erbeutet hatte, waren beides. Der in rotes Leder gekleidete Geweihte nickte knapp als ein Dukat mit blechernem Scheppern im Opferstock landete.

Am Abend machte sich Mittelreicher auf den Weg nach Al’Uruch, um sich mit Tulachim und den Wächtern von Nareb zu treffen. Die riesige Nekropole Fasars lag mehrere Meilen entfernt vor der eigentlichen Stadt inmitten mehrerer grasbewachsener Hügel. Die Stadt mochte sich einst bis zu diesem Gebiet ausgedehnt haben, nun zeugten nur noch vereinzelte Ruinen und Steinhaufen von früherer Zivilisation. Mittelreicher hatte noch nie zuvor dieses Gebiet betreten. Als die abertausend Gräber zwischen dem Hügel auftauchten, war er fast genauso beeindruckt, wie zu dem Zeitpunkt als er das erste Mal die Türme von Fasar erblickt hatte. Das Gebeinfeld sah aus, als ob alle Völker Aventuriens hier ihre Toten bestatteten. Nicht nur die schiere Anzahl war beeindrucken, auch die Vielfältigkeit der Grabanlagen würde man sonst nirgendwo auf dem ganzen Kontinent finden. Vereinzelt waren sogar kleine Pyramiden zu erkennen. Mittelreicher erschauerte bei dem Gedanken, dass sich diese noch aus den Zeiten der Echsenherrscher erhoben. Die meisten Gräber waren jedoch einfache Erdhaufen mit kleiner Steinplatte und eingemeißeltem oder frisch geflochtenem Boronsrad. Beim Gedanken an den unbestechlichen Gott des Todes überkam überlegte Mittelreicher, ob er nicht diesen anbeten sollte. Geopfert hatte er ihm sicher schon oft genug, aber wahrscheinlich spielte dies bei einer so unnahbaren Gottheit keine Rolle. Seine Schritte führten Mittelreicher zu den erhabeneren Grabbauten. Hier standen kleine überwucherte Mausoleen und Gräber, die schon fast an Paläste erinnerten. In Fasar hätte ein solcher Bau mit Sicherheit mehreren Familien Platz geboten. Der Lärm von Spitzhacken führte den Söldner zu einem der eher kleinen Mausoleen. Die Familiengruft war bezeichnend für Nareb und seine Familie. Die Stilelemente, wenn man sie denn als solche bezeichnen konnte, waren ohne Rücksicht auf Geschmack aus allen Epochen und Kulturen zusammengewürfelt. Billiger Marmor wurde durchbrochen von maraskanischen Holzeinlegearbeiten, geschmückt mit angelaufenen Messingbeschlägen. Das Grabmal war ebenfalls überwuchert und schlecht gepflegt. Entweder war selbst Nareb die pompöse Hässlichkeit des Bauwerks aufgefallen oder, was Mittelreicher für sehr viel wahrscheinlicher hielt, pflegte er keine besonders gute Beziehung zu seinen dahingeschiedenen Verwandten. Denn im Moment waren die beiden Wächter damit beschäftigt, den Boden des Gebäudes mit Spitzhacken aufzubrechen. Der Magier war bereits eingetroffen und lehnte gelangweilt an einer Wand. Zwar patrouillierten mehrere Wächter auf dem Gelände, aber schließlich konnte niemand Nareb verbieten ein Loch in seinem eigenen Grabmal auszuheben. Nichts lag an diesem Ort näher.
„ Sei gegrüßt mein waffenfertiger Freund“ begrüßte Tulachim überschwänglich den Mittelreicher. „Ich fürchte euer Name ist mir entfallen und bitte vielmals um eure Vergebung und die eurer angesehenen Familie sowie eures Vaters.“ Der Mittelreicher hatte überlegen müssen, wann er mit dem Magier Freundschaft geschlossen hatte, unterbrach jetzt aber doch den Redefluss des Tulamiden: „Meine Name wurde nicht genannt und muss auch nicht genannt werden. Mittelreicher ist völlig ausreichen.“ „Sicher mein Freund! Nichts verstehe ich besser als den Stolz auf sein großartiges Volk und seine Errungenschaften, obwohl die Errungenschaften meines Volkes natürlich sehr viel größer sind.“ Der Tulamide geriet kurz ins Stocken. „ Natürlich ist mein Volk ja auch sehr viel älter als eures und das große Mittelreich wird sicher noch Gelegenheit haben, um auch große Errungenschaften zu vollbringen.“ Mittelreicher hatte sich schon lange daran gewöhnt, das die Überheblichkeit der Tulamiden alles andere als böse gemeint war und hatte in seinem Land zugegebener Maßen nicht die glücklichste und einfachste Vergangenheit gehabt. Daher schluckte er kurzerhand den bissigen Kommentar herunter. Ein großer Teil der Tulamidenlande stand momentan unter mittelreichischer Herrschaft beziehungsweise unter der Herrschaft der Familie Gareth. „Wie lautet der Plan?“ Tulachim holte kurz Luft. „Bei Arbeiten am Grabmal meines hochverehrten Fürsten Nareb wurde ein Tunnel entdeckt. Alten Aufzeichnungen zu Folge führt er auch zum Turm von Narebs unliebsamem Handelspartner. Dieser ist von außen uneinnehmbar, aber von innen könnte uns ein Schlag gelingen!“ Mittelreicher runzelte die Stirn. Er mochte nicht fragen, um welche Aufzeichnungen es sich dabei gehandelt hatte und schon gar nicht um welche Art von Grabungsarbeiten. „Sind das die einzigen beiden Wächter, die uns Nareb zugeteilt hat?“, fragte er mit einem Kopfnicken zu den beiden Gestalten, die ihre Grabungsarbeiten eingestellt hatten. Offensichtlich war der Tunnel jetzt frei. „Umso weniger Kämpfer, desto weniger werden wir auffallen. Außerdem wird die gesamte Ehre unser sein. Die Geschichtenerzähler werden noch lange nach unserem ruhmreichen Dahinscheiden von den Heldentaten des großen Magus Tulachim ibn Tulef und des…. ähm…. Mitteleichers berichten.“
Mittelreicher war das ganze zwar mehr als suspekt, aber mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stieg er in den freigelegten Tunnel hinab. Das Gewölbe war alt. Er hatte eine Erdhöhle erwartet. Ähnlich wie ein riesiger Maulwurfstunnel. Der Gang war jedoch ausgekleidet mit Marmor. Wahrscheinlich war der Stein einst deutlich wertvoller gewesen als die Wände des Mausoleums, jetzt war er jedoch überwuchert mit Pilzen und anderen Gewächsen, die im feuchten Untergrund auch ganz ohne Licht prächtig gediehen. Geschickt fing Mittelreicher eine Fackel auf, die von oben durch das Loch geworfen wurde. Im faden Lichtschein erkannte er, dass der Weg in beide Richtungen deutlich bergab führte. Die eine Route würde sie zum Turm von Narebs Konkurrenten bringen. Die Gegenrichtung könnte bis unter den Raschtullswall führen: Das Licht der Fackel verlor sich zwar nach einigen Metern, aber im dumpfen Dämmerzustand dahinter war keine Kurve oder Biegung auszumachen. Mittelreicher erschauerte bei dem Gedanken, das ganze Steinmassiv des Raschtullswalls über seinem Kopf zu haben. Geschickt, wie es sich für einen Bücherwurm kaum vermuten ließ, kletterte nun Tulachim durch das Loch. Es folgten die beiden Wächter. Sie waren zwar mit eindrucksvollen Krummsäbeln bewaffnet und wiesen auch einen beachtlichen Körperumfang aus, dieser setzte sich jedoch mehr aus Fett als aus Muskeln zusammen. Ganz offensichtlich waren es beide Wächter mehr gewohnt, Wache zu stehen als tatsächlich zu kämpfen.
Stumm begann die kleine Gruppe ihren Marsch in Richtung Stadt. Unter dem drückenden Gewicht der Erde schienen selbst dem gesprächigen Tulamiden die Worte im Halse stecken zu bleiben. Weder der Gang, noch der Bewuchs änderten sich über viele Hundert Schritt. Nur ein zunehmender Geruch von vergammeltem Fisch stach der Gruppe immer penetranter in die Nasen. Der Mittelreicher hatte bereits begonnen zu zweifeln, ob sie überhaupt jemals irgendwann irgendwo ankommen würden, als das Licht der Fackeln plötzlich von einem Hindernis zurückgeworfen wurde. Nach einigen weiteren Schritten konnte die Gruppe eine massive Stahltür erkennen. „Kommt die auch in deinem Plan vor?“, feixte der Mittelreicher. Die Tür war über und über mit seltsamen Schriftzeichen und Abbildungen bedeckt. Die Anordnungen wirkten seltsam unmenschlich. Zwar waren tatsächlich einige Menschen abgebildet, aber auch andere humanoide Gestalten mit Schwänzen und andere Abbildungen, die kaum länger zu fixieren waren, ohne dass sich eine Art unangenehmes Ziehen im hinteren Teil des Kopfes einstellte. Tulachim musterte die Abbildungen ebenso besorgt wie Mittelreicher und meinte dann: „Ich werde diese Tür mittels einiger mächtiger Zauberformeln öffnen. Die Kunst der entsprechenden arkanen Invokation beansprucht natürlich eine angemessene Zeitspanne.“ Als der Redefluss des Tulamiden kurz zum Erliegen kam war aus dem Rücken der Gruppe ein deutliches Scharen zu vernehmen. Mittelreicher fuhr herum. Wie konnte das sein? Sie waren an keiner Abzweigung vorbeigekommen. Zumindest soweit man das bei dem dichten Bewuchs der Wände sagen konnte. Im Fackelschein war noch nichts zu sehen. Wenn da jemand hinter ihnen war, dann sicherlich ohne Lichtquelle. Sie saßen in der Falle. Sein großes Schwert konnte Mittelreicher im engen Gang ebenfalls kaum effektiv nutzen. „Beeil dich Tulachim ibn Tulef!“ „Wie gesagt, die Kunst der Invokation benötigt eben eine angemessene Zeitspanne für die richtige…“ Mittelreicher grunzte. „Verdammt, beeil dich! Wir bekommen Gesellschaft!“ Im Fackellicht waren eine Vielzahl wankender Gestalten aufgetaucht. Sie bewegten sich langsam, aber unaufhaltsam in ihre Richtung. Mittelreicher konnte Schwänze ausmachen und plötzlich wurde der Geruch nach altem Fisch unerträglich. Einer der Wächter schien mehr erkannt zu haben als Mittelreicher. Er schrie einen spitzen Schrei auf Tulamidya aus, ließ seinen Säbel fallen und rannte auf die Tür zu. Der zweite Tat es ihm gleich. Verrückt geworden, zerrten beide verzweifelt an der großen Stahltür. Vergeblich. „Verdammt! Lasst den Magier seine Arbeit machen!“ Keiner von beiden hörte auf den Mittelreicher. Jetzt sah dieser ebenfalls im Fackelschein die schrecklichen Monster. Es musste sich um Echsenmenschen handeln. Er hatte für das Kaiserreich auf Maraskan gekämpft und dort die humanoiden Echsen schon einmal gesehen. Das Schuppenkleid dieser Exemplare war jedoch verfault und zeigte das stinkende Fleisch an vielen Stellen. Diese Gestalten waren nicht am Leben. Hier war dunkle Magie am Werk Verdammte Niederhöllen. Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer. Er befreite die Boronssichel aus dem Rückengehänge und umfasste die ungeschliffene Seite mit der Linken, geschützt durch einen Kettenhandschuh. Nun konnte er die Waffe zumindest provisorisch auch auf dem engen Raum nutzen. Zwei Kräftige Schläge und Narebs Wächter lagen tot am Boden. „Magier! Mach deine Arbeit!“ Die Untoten waren heran. Unter der zweihändig gepackten Sichel fiel bereits das erste Monster. Als das zahnbewerte Maul vom Rumpf getrennt wurde, steigerte sich der Gestank nochmals ins Unendliche. Eine Kralle versuchte nach dem Kopf von Mittelreicher zu greifen und schrammte über seine Kettenhaube. Er ließ sich zu rechten Seite wegleiten und versetze der Gestalt mit der Spitze des Zweihänders einen Stich knapp unterhalb des Gaumens und ließ den Stahl bis zur Schädeldecke weitergleiten. Endlich vernahm er die rettende Stimme Tulachims: „Foramen, Foraminor!“ Dann ein Klicken und ein Quietschen. Die Tür hatte sich geöffnet und der dünne Magier stemmte sie gerade mit aller Kraft auf. Die Wesen mit kräftigen Hieben auf Abstand haltend zog sich der Söldner zurück. Der Strom der Gegner ebbte nicht ab. Es war unmöglich, sich zur Flucht zu wenden. Von hinten hörte Mittelreicher die Stimme Tulachims: „Runter! Ignisphaero!“ Mittelreicher reagierte fast zu langsam. Er spürte bereits die Hitze der Magie im Rücken, als er sich fallen ließ und ein großer Feuerball die Untoten vor ihm zurückdrängte. Trotz seiner schwelenden Nackenhaare sprang er sofort wieder auf, an der Tür vorbei und stemmte sich von der anderen Seite zusammen mit Tulachim und aller Macht gegen die Stahltür. Langsam begann sie sich zu bewegen. Schließlich hörte er das befreiende Klicken: Die Tür war ins Schloss gefallen.
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RE: Roman Gezeichneter Schatten [Spoileralarm] - von Steve Barnes - 21.06.2017, 19:30



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